Was als Krieg im Gazastreifen begann, ist längst ein regionaler Flächenbrand. Dabei kann es nur einen Sieger geben.
Seit einem Jahr toben die Kämpfe, welche die Hamas mit ihrem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begonnen hat. Die zwölf Monate haben viele Gewissheiten zerstört, die für Israel und den Nahen Osten als selbstverständlich galten.
Die Kriege im Gazastreifen und in Libanon gehören nicht zu den periodisch aufflackernden und meist rasch wieder gelöschten Bränden. Sie sind vielmehr «grosse» Kriege und verändern die Region dauerhaft, so wie 1967 der Sechstagekrieg. Am Ende steht die Frage, wer aus diesem Ringen für die nächsten Jahre als Sieger hervorgeht: Israel oder Iran.
Die Islamisten bringen Menschenopfer
Eine der Gewissheiten lautete, dass alle Seiten die Eskalation zu begrenzen suchen, weil sie in einer totalen Konfrontation mehr zu verlieren als zu gewinnen haben. Nach dem Libanonkrieg im Jahr 2006 formulierte der Hizbullah-Führer Hassan Nasrallah diese Sichtweise prägnant. Er sagte in einem Interview, hätte er gewusst, was die Entführung zweier israelischer Soldaten auslösen würde, hätte er nie seine Zustimmung gegeben.
Diese relative Mässigung liess sich seither in allen Waffengängen beobachten, auch zwischen der Hamas und Israel: Kämpfe von wenigen Tagen, dann ein rascher Waffenstillstand. Alles so berechenbar wie die Wiederkehr von Pessach und Ramadan.
Die Invasion am 7. Oktober und der sadistische Blutrausch enthemmter Palästinenser änderten alles. Die Hamas liess den Geist aus der Flasche, der ab 2006 gebändigt schien. Jetzt gilt wieder Auge um Auge, Zahn um Zahn oder, etwas weniger alttestamentarisch ausgedrückt: Die fatale Neigung ist zurückgekehrt, Probleme ein für alle Mal lösen zu wollen.
Mit ihrem Überfall auf den soeben gegründeten Judenstaat wollten die arabischen Staaten 1948 den Teilungsplan der Uno für Palästina ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Im Jom-Kippur-Krieg 1973 unternahmen sie einen neuen Anlauf, um den Fremdkörper in ihrer Mitte zu vernichten. Die sture Kompromisslosigkeit im Umgang mit Israel hat viel Elend über die Araber gebracht.
Auch die Israeli hofften mit dem Einmarsch in Libanon 1982, den Unruheherd an ihrer Nordgrenze mit Stumpf und Stiel zu vertilgen. Die fürchterlichen Massaker in den Beiruter Palästinenserlagern Sabra und Shatila waren die Folge. «Ein für alle Mal» ist das todsichere Rezept für ein Desaster im Nahen Osten.
Diesen Ungeist setzte die Hamas vor einem Jahr erneut frei. Benjamin Netanyahu nahm die Herausforderung an. Israel führt seither einen totalen und keinen graduellen Krieg mehr. Es sieht sich in einer Weise existenziell bedroht wie in den grossen Schlachten der Vergangenheit.
Das Ziel lautete zunächst, die Hamas als militärische Organisation zu vernichten. Das ist weitgehend gelungen. Die Hamas ist keine abgestimmt handelnde Terrorarmee mehr. Der Geschosshagel auf Israel hat aufgehört, viele der unterirdischen Raketenfabriken sind zerstört. Die arg dezimierten Einheiten können nur noch unkoordinierte Guerilla-Aktionen ausführen.
Zu den vielen Annahmen, die sich seit einem Jahr als falsch herausstellen, gehört der eherne Grundsatz: Terroristen kann man mit militärischen Mitteln nicht besiegen.
Die israelischen Streitkräfte nahmen sogar dem Tunnelsystem im Gazastreifen viel von seiner Wirkung. Die Kampagne wird in die Annalen eingehen als Beispiel dafür, wie man den von allen Armeen gefürchteten Häuserkampf gewinnen kann.
Nur auf eine Frage findet Israel keine Antwort: Wie soll man einen Gegner bekämpfen, der das humanitäre Völkerrecht ignoriert, der die Verachtung für diese Normen sogar zur Voraussetzung seiner Strategie gemacht hat? Die Hamas und der Hizbullah errichten ihre Stellungen in bebautem Gebiet und lenken das Feuer absichtlich auf Zivilisten. Die Islamisten bringen Menschenopfer.
Durch die vielen unschuldigen Toten gerät Israel politisch in die Defensive. Militärisch aber hat es die Oberhand, was jetzt der Hizbullah in Libanon zu spüren bekommt. Dieser begann am Tag nach den Hamas-Massakern, Raketen auf Israel regnen zu lassen. Das Ende der Angriffe knüpfte Nasrallah an einen Waffenstillstand in Gaza, womit er sich abhängig machte vom fanatischen Hamas-Chef Sinwar.
Für ihre Unterstützung der Hamas zahlen die libanesischen Schiiten einen hohen Preis. Nasrallah selbst, die militärische Führung und viele Kader wurden eliminiert, ihre Infrastruktur ist beschädigt.
Israel kann es nicht hinnehmen, dass seine Grenzgebiete wegen des konstanten Beschusses unbewohnbar bleiben. Damit hätte der Hizbullah faktisch eine Pufferzone in Nordisrael durchgesetzt. Nun schafft der jüdische Staat eine Pufferzone in Südlibanon; in einem Gebiet notabene, das die Uno 2006 zu demilitarisieren versprach. Im Nahen Osten ist die «internationale Gemeinschaft» so grossmäulig wie zahnlos.
Einer Fehleinschätzung unterliegen auch die USA und die Europäer. Sie rufen zur Zurückhaltung auf und appellieren an den gesunden Menschenverstand, so als würden in diesem Grosskonflikt nicht längst andere, atavistische Kräfte walten.
In beinahe rührender Weise machte Joe Biden immer wieder Vorschläge für einen Waffenstillstand. Doch Amerika hat keinen Kissinger mehr. Im Weissen Haus herrscht ein Machtvakuum. Und Sinwar ist nicht der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat, der 1973 wusste, wann das Spiel verloren war. Sinwar will alles oder nichts.
Die Phantasmagorie vom palästinensischen Endsieg liefert Netanyahu wiederum den Vorwand, sich dem Drängen Washingtons zu entziehen. Auch der alternde Ministerpräsident kämpft sein letztes Gefecht. Wie bitter ernst es ihm ist, lässt sich daran ermessen, dass er die noch nicht befreite Hälfte der ursprünglich 239 Geiseln zu opfern bereit ist.
Auch das war so eine Gewissheit, die am 7. Oktober zuschanden ging: Israel setzt lieber 1000 Terroristen auf freien Fuss, als einen Israeli in der Hand der Hamas zurückzulassen. Sinwar glaubte, mit so vielen Geiseln Israel seinen Willen aufzwingen zu können. Viele kleine Irrtümer münden in die grosse Katastrophe.
Zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf tanzen die Machtverhältnisse
Das Feuer, das jetzt wütet, muss ausbrennen. Das System der relativen Mässigung ist kollabiert. Eine neue Ordnung für den Nahen Osten muss erst entstehen, und das geschieht in dieser Region meist mit Waffengewalt. Die Warnungen vor einem Flächenbrand unter Einbezug Irans gehen an der Realität vorbei, denn das Szenario läuft längstens ab.
Iran und seine Verbündeten haben in der Vergangenheit massiv aufgerüstet, und sie machten nie ein Hehl daraus, wer ihr Hauptgegner ist: Israel. Es war unvermeidlich, dass der jüdische Staat nach Wegen suchte, um die tödliche Umklammerung zu sprengen. Der 7. Oktober war dann der Anlass, der jedes weitere Zögern verbot.
Seit den erfolgreichen Schlägen gegen die Hamas und den Hizbullah hat Israel Spielraum gewonnen. Seine technologische, nachrichtendienstliche und militärische Übermacht scheint erdrückend. Der Gedanke ist so verführerisch wie gefährlich, ein für alle Mal auch mit dem Regime in Teheran aufzuräumen. Iran wird sich daher überlegen, ob es nach zwei abgewehrten Raketenangriffen auf Israel wirklich in eine totale Konfrontation eintritt.
Bisher führte Iran einen Schattenkrieg gegen Israel und überliess es seinen Verbündeten, zu kämpfen. Das ist nun vorbei. Exponiert sich Teheran direkt, setzt es sich selbst einem existenziellen Risiko aus. Dann können auch die USA nicht länger abseitsstehen und sich auf eine defensive Position beschränken. In der Vergangenheit nahm Amerika die Provokationen der iranischen Hilfstruppen wie der Huthi im Roten Meer stoisch hin. Eskaliert der Konflikt, muss Washington direkt eingreifen, sonst leidet seine Abschreckungsfähigkeit – und das nicht nur regional, sondern auch in Europa und Asien.
Für den Nahen Osten ist der Moment der Wahrheit gekommen. Iran hat in den letzten Jahrzehnten geduldig seine Position ausgebaut: im Irak, in Syrien oder Jemen. Das Land schmiedete neue Allianzen mit China und Russland und drängte alte Rivalen wie Saudiarabien zurück. Schlüge es jetzt mit voller Wucht los, würde es auch noch den Anspruch auf die absolute Hegemonie vom Persischen Golf bis zum Mittelmeer erheben.
Hätte Teheran damit Erfolg, wären Israel, die USA und die vielen arabischen Gegner der Mullahs die uneingeschränkten Verlierer. Sie können das nicht zulassen. Muss aber Iran einen Rückzieher machen, steht es in den Augen seiner Verbündeten geschwächt da. So oder so: Im Nahen Osten tanzen die Machtverhältnisse.