Der überraschendste Gewinner der OECD-Mindeststeuer ist der Kanton Luzern. Ab 2026 sind 400 Millionen Franken zusätzlich in der Kasse, die für Entbehrungen der Vergangenheit entschädigen.
Im Oktober 2016 ergossen sich schweizweit Hohn und Spott über den Kanton Luzern. Nach den Herbstferien mussten 20 000 Gymnasiasten, Fachmittelschüler und Lehrlinge zu Hause bleiben, weil der Kanton knapp bei Kasse war. Von linker Seite wurden die Zwangsferien als «unwürdiger Höhepunkt einer endlosen Liste von Sparmassnahmen» und «Abbau der Bildungsqualität» angeprangert. Schüler und Lehrer protestierten gemeinsam vor dem Regierungsgebäude.
Die gellenden Pfiffe galten vor allem Reto Wyss, damals als Erziehungsdirektor oberster Schulverantwortlicher. Der Mitte-Politiker sitzt auch heute noch in der Luzerner Regierung, mittlerweile als Finanzdirektor. In dieser Funktion konnte er kürzlich Erfreuliches verkünden. Luzern rechnet ab 2026 mit 400 Millionen Franken Mehreinnahmen pro Jahr. Das ist hundertmal so viel wie die 4 Millionen Franken, die man damals mit den Schulschliessungen einzusparen hoffte.
Volles Risiko
Acht Jahre liegen zwischen diesen beiden Episoden. Sie zeigen beispielhaft auf, wie sich der Kanton Luzern in der jüngeren Vergangenheit entwickelt hat. Vom Jammertal zum Steuerchampion. Denn die Zwangsferien im Herbst 2016 waren eine direkte Folge des Kurses, den der Kanton Mitte der nuller Jahre eingeschlagen hatte. Aushängeschild und Motor der Tiefsteuerpolitik war Marcel Schwerzmann. Vor seiner Wahl in die Regierung war er Steuerverwalter des Kantons und wusste somit, wo der Hebel anzusetzen war. Nämlich bei den Unternehmenssteuern.
Im Vergleich zu den benachbarten Steueroasen Zug, Schwyz, Nidwalden und Obwalden war Luzern so etwas wie das hässliche Entlein. Als erster mittelgrosser Kanton setzte Schwerzmann ebenfalls auf eine Tiefsteuerstrategie, und zwar bei den Unternehmen. 2012 halbierte Luzern die Firmengewinnsteuer auf einen nationalen Tiefstwert. Zuvor lag Luzern in dieser Kategorie gerade noch unter den Top Ten. «Wer als Steuerstandort auf dem Radar der Unternehmen sein will, muss der Beste sein», lautet Schwerzmanns Devise.
Es folgten harte Jahre. Denn nicht nur die Steuereinnahmen sanken, gleichzeitig baute Luzern mit Sparmassnahmen Schulden ab. Nicht nur die Schulschliessungen waren eine Zumutung für die Bevölkerung. So pfiff das Bundesgericht Luzern 2019 zurück, weil der Kanton bei den Verbilligungen für die Krankenkassenprämien zu stark gespart hatte. Er hatte die Einkommensgrenzen der Betroffenen zu tief angesetzt. Luzern musste schliesslich mehrere Millionen Franken zurückzahlen.
Bei dieser und anderen Gelegenheiten wiederholten wütende Vertreter von SP, Grünen und Gewerkschaften wie ein Mantra, die leeren Kassen seien eine direkte Folge der riskanten Steuerstrategie. Ganz unrecht hatten sie nicht, denn in den ersten Jahren sanken die Steuereinnahmen. «Talfahrt im Spargebiet» titelte die «Wochenzeitung» 2019 ein Porträt Schwerzmanns.
Doch nicht nur Vertreter der Linken zweifelten am eingeschlagenen Kurs. Auch immer mehr bürgerliche Politiker äusserten hinter vorgehaltener Hand Zweifel daran, dass sich der versprochene Aufschwung tatsächlich einstellen würde. Schwerzmann liess sich dadurch nicht beirren und erklärte bei jeder sich bietenden Gelegenheit: «Die Steuer- und Finanzstrategie ist ganz klar eine Erfolgsgeschichte.»
Als er Mitte 2023 als Finanzminister zurücktrat, waren diese kritischen Stimmen weitgehend verstummt. Denn in den letzten Jahren sprudelten die Steuereinnahmen, so dass der Kanton wieder mehr investieren und die Steuern für Privatpersonen und Unternehmen senken konnte. Vor allem aber hat die Schweiz beschlossen, per 1. Januar 2024 die OECD-Mindeststeuer einzuführen.
Sie stellt sicher, dass internationale Konzerne ab einem Jahresumsatz von 750 Millionen Euro in jedem Land mindestens 15 Prozent Gewinnsteuer zahlen. Die betroffenen Firmen müssen eine spezielle Ergänzungssteuer bezahlen, die die Gesamtbelastung auf 15 Prozent bringt. Die zusätzlichen Einnahmen aus der Ergänzungssteuer gehen zu drei Vierteln an die Kantone und zu einem Viertel an den Bund.
Was das für Luzern bedeuten würde, ahnten weder Schwerzmann noch andere Experten. Ursprünglich rechnete Luzern mit vergleichsweise bescheidenen 40 Millionen Franken (2026) und 55 Millionen Franken in den Folgejahren. Doch nun erweist sich die Luzerner Steuerstrategie als perfekte Vorarbeit. Überspitzt gesagt: Die Mehreinnahmen von 400 Millionen Franken bezahlen die Unternehmen, die in den letzten Jahren durch die Steuerstrategie angelockt worden waren. Zahlreiche Konzerne wie Adidas, Burger King oder das Pharmaunternehmen Merck Sharp & Dohme (MSD) haben ihren (Europa-)Hauptsitz in den Kanton Luzern verlegt.
Steuersenkungen im Jahrestakt
Die positive Entwicklung der Steuererträge führt dazu, dass sich die Einwohner des Kantons Luzern auf Steuersenkungen im Jahrestakt freuen dürfen. Bereits auf den 1. Januar 2025 wird ein neuer Sozialabzug für tiefe Einkommen eingeführt und werden die Kinderabzüge erhöht sowie die Kapitalsteuer gesenkt. Diese Änderungen haben die Stimmbürger am 22. September gutgeheissen. In den Abstimmungsunterlagen ging der Regierungsrat noch von Mehrerträgen zwischen 30 und 55 Millionen Franken durch die OECD-Mindeststeuern aus.
SP und Grüne hatten die Steuervorlage unter anderem mit der Befürchtung bekämpft, die Zahlungen aus den Erträgen der OECD-Mindestbesteuerung würden nicht ausreichen, um die Ertragsausfälle der Gemeinden zu kompensieren. Die neuesten Schätzungen haben ihnen dieses Argument aus der Hand geschlagen. Vielmehr sollen die Steuern im plötzlich reich gewordenen Kanton weiter sinken. Der Steuerfuss soll in den nächsten Jahren von 1,6 auf 1,55 und später auf 1,45 Einheiten gesenkt werden.
Der Regierungsrat plant zudem höhere Investitionen, dies unter anderem in den Bereichen Hochbau, Strassen und Gesundheit. Wer in den mageren Steuerjahren gelitten hat, soll ebenfalls profitieren. So sollen bei der Luzerner Polizei und den Strafverfolgungsbehörden, die über eine permanente Überlastung klagen, zusätzliche Stellen geschaffen werden. 40,5 Millionen Franken fliessen in die Bildung. «Mit diesen Mitteln will der Regierungsrat unter anderem den Lehrberuf attraktiver machen», schreibt die Regierung. Gewissermassen ist es auch eine späte Wiedergutmachung für die schulfreie Woche im Oktober 2016, für die die Lehrpersonen keinen Lohn erhielten.