Messies seien faul und sozial schwach, so lauten gängige Vorurteile. Sie stimmten nicht, sagt eine Expertin. Hinter dem zwanghaften Anhäufen von Dingen steckt oft viel mehr.
«Dieses Zimmer hier ist besonders schlimm», sagt Melanie S. und öffnet die weisse Tür. Dahinter: ein Berg von Haushaltsgegenständen, Stoffrollen, noch verpackten Küchenrollen, Einkaufstaschen, Pappschachteln und Klamotten. Auf einer Kiste steht in Handschrift «Acrylfarben», auf einer anderen liegt eine alte Puppe, sie trägt einen dunkelgrünen Rock. Melanie S. kann kaum ins Zimmer gehen, der Kram versperrt den Weg fast komplett. Irgendwo unter dem Chaos befinden sich ein Schreibtisch und ein Bürostuhl. Benutzt werden sie nie. In diesem Zimmer kann niemand wohnen.
Alles begann vor 25 Jahren. Melanie lebte damals in Zürich, ihre Kinder waren gerade ausgezogen. «Rückblickend war das ein schwerer Schritt. Meine beiden Töchter, damals frisch in der Lehre, verliessen fast gleichzeitig das Haus», erinnert sich Melanie. Ihre Kinder loszulassen, fiel ihr schwer. Noch schwerer fiel es ihr, sich von Dingen zu trennen, die sie an ihre Töchter erinnerten. «Ich konnte nichts wegschmeissen. Ich wollte die Erinnerungen an ihre Kindheit beibehalten, mich daran klammern», sagt sie. Die Gegenstände gaben ihr Halt. Doch das Festhalten an Dingen hörte nicht mehr auf.
Melanie leidet an zwanghaftem Horten, besser bekannt als Messie-Syndrom. Der englische Begriff «Mess» bedeutet so viel wie Chaos oder Unordnung. Betroffenen fällt es schwer, sich von Dingen zu trennen und Ordnung zu halten. Im internationalen Krankheitsregister ICD11 wird pathologisches Horten «durch eine Anhäufung von Besitztümern» beschrieben, wodurch die Wohnräume von Betroffenen so überfüllt sind, dass ihre Nutzung oder Sicherheit beeinträchtigt ist. Laut Schätzungen leiden in Europa zwischen zwei und sechs Prozent der Bevölkerung am Messie-Syndrom.
Zwanghaftes Horten begann mit Auszug der Kinder
Melanie S. ist heute 68 Jahre alt und lebt am Rande der Stadt Basel. Vom Vater ihrer Töchter ist sie geschieden. Ihren vollständigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, zu gross ist ihre Scham. Sie arbeitete einmal als Kassiererin, dann erkrankte sie an Depressionen, und die Sucht des Hortens begann. Seit 20 Jahren ist sie auf eine Invalidenrente angewiesen. Wie stark das Messie-Syndrom Melanies Alltag bestimmt, ist auch abhängig von ihrem psychischen Zustand. «Es gibt bessere und schlechtere Tage. Manchmal bin ich so antriebslos, dass ich kaum etwas schaffe», sagt sie. An manchen Tagen aber, meistens dienstags, sei sie sehr aktiv. Es ist ihr Wasch- und Putztag. «Das Badezimmer putze ich sogar jeden Tag. Es ist mir sehr wichtig, dass es dort sauber ist.»
Als sie noch in Zürich lebte, war sie zeitweise in psychologischer Behandlung. Seit sie in Basel wohnt, geht sie nicht mehr zur Therapie, nimmt aber weiterhin ihre Medikamente. Sie hat einen anderen Weg gefunden, mit ihrer Erkrankung umzugehen. Hier in Basel gibt es eine Selbsthilfegruppe, die sie – unter Anleitung einer Sozialarbeiterin der Stadt – selbst leitet. Zweimal im Monat trifft sich die Gruppe, sie besteht aus acht bis zehn Betroffenen.
Man kauft etwas Neues, aber man schmeisst nichts weg
Das Prinzip der Selbsthilfegruppe ist einfach: Einer erzählt von seinem Problem, die anderen geben Tipps. «Oft fühle ich mich danach viel besser, weil ich spüre: Ich bin nicht die Einzige mit diesem Problem.» Das Messie-Syndrom ist meistens nicht die einzige Erkrankung von Betroffenen. Das zeigt sich auch in der Gruppe: Die Teilnehmer leiden nicht nur an krankhaftem Horten, sondern auch an Depressionen, an Angststörungen oder an einer Alkoholsucht. Oft leiden Betroffene auch unter einer Kaufsucht – diese wiederum verstärkt das pathologische Chaos: Man kauft etwas Neues, aber man schmeisst nichts weg.
Die Selbsthilfegruppe besteht seit fünf Jahren. Es sei schwierig, an neue Betroffene zu kommen. «Die Scham ist gross. Die Krankheit ist gesellschaftlich immer noch sehr stigmatisiert», sagt Melanie.
Einige Mitglieder der Selbsthilfegruppe haben sich in der Vergangenheit schon Hilfe bei Psyspitex gesucht, die eine spezielle Form der ambulanten psychiatrischen Pflege und Betreuung anbieten. Psychiatrische Spitex unterstützt Menschen mit psychischen Problemen in ihrem Umfeld zu Hause. Doch manche Leute aus der Gruppe haben damit schlechte Erfahrungen gemacht, erzählt Melanie: «Bei einer Betroffenen haben sie den Spiegelschrank im Bad komplett ausgemistet. Darunter waren auch wichtige Medikamente und Augentropfen.» Fälle wie diese schüren die grösste Angst der Betroffenen: dass man ihnen wegnimmt, was ihnen vermeintlich Halt gibt.
Das Messie-Syndrom ist meist nur die Spitze des Eisbergs
Die Zürcherin Esther Schippert arbeitet seit 2016 mit Betroffenen. Sie hilft ihnen als Coach, ihr Leben aufzuräumen. Besucht sie Betroffene, hört sie beim ersten Treffen nur zu und sieht sich die Räumlichkeiten an. «Alleine die Tür für eine fremde Person zu öffnen, kostet viel Überwindung.» Oftmals meldeten sich die Klienten dann wochenlang nicht mehr. «Aus Angst, dass ich Dinge wegwerfe, die ihnen wichtig sind. Doch das tue ich nicht. Ich will, dass die Klienten mit mir einen Prozess durchlaufen.»
Schippert weiss, wie viel Scham mit der Krankheit verbunden ist: «Es gibt viele Vorurteile. Betroffene seien faul oder sozial schwach, heisst es. Doch das stimmt nicht.» Aus ihrer Erfahrung als Stress- und Resilienz-Coach weiss sie: Das Messie-Syndrom zieht sich durch alle Gesellschafts- und Altersschichten. «Es kann jeden treffen. Vom Kind im Kindergarten über den Akademiker mit Doktortitel bis hin zur 80-jährigen Seniorin im Altersheim.» Und es treffe auch nicht einfach jene Menschen, die schon immer einen Hang zum Chaos gehabt hätten.
Hinter dem oberflächlichen Durcheinander stecke immer ein tieferliegendes Problem: «Das Sammeln und Festhalten an Dingen gibt meinen Klienten Sicherheit und Liebe. Sie stopfen damit ein Loch.» Meist sei es ein Trauma, das den Zwang zum Sammeln auslöst. «Da gibt es zum Beispiel das Kind, dessen Mutter ein zweites Baby bekommen hat und das sich nun übersehen fühlt. Oder die Ehefrau, die um ihren verstorbenen Mann trauert und sich von seinen Klamotten nicht trennen kann. Das Horten ist wie ein Schutzwall.»
Das Messie-Syndrom sei oft nur die Spitze des Eisbergs, eine Folge von weiteren Erkrankungen: Burnout, Depressionen, Angst, Kaufsucht oder Demenz im Alter. Zudem hätten Betroffene meist einen geringen Selbstwert. «Manche schlafen auf dem Sessel, weil sie keinen Platz mehr im Bett haben. Betroffene gewähren sich selbst wenig Raum.»
Erkrankte Personen wendeten sich häufig erst dann an sie, wenn es nicht mehr anders gehe. Manche warten bis zur Zwangsräumung. «Viele haben Angst davor, dass irgendwann die Erwachsenenschutzbehörde vor der Tür steht und ihnen die Kinder wegnimmt.» Die Erkrankung sei mit einer ständigen Anspannung verbunden. «Betroffene stellen sich täglich die Frage: Was passiert, wenn das rauskommt?»
Auch Angehörige leiden unter dem zwanghaften Horten
Das zwanghafte Horten belaste auch die Angehörigen. «Nichtbetroffene, die mit Erkrankten zusammenleben, haben oft Schwierigkeiten, sich abzugrenzen», sagt Esther Schippert. Zudem gebe es wenig Anlaufstellen in der Schweiz. Aus diesem Grund hat sie letztes Jahr einen Verein für Messie-Betroffene und ihre Angehörigen gegründet. Angehörige könnten sich informieren und bei einem Spaziergang ihre Situation schildern.
Auch Melanie bekommt häufig Anrufe von Angehörigen. «Für Nichtbetroffene ist diese Krankheit schwer zu verstehen. Als Aussenstehender denkt man sich: Es kann doch nicht so schwer sein, sein Geschirr jeden Tag abzuspülen oder seine Klamotten wegzuräumen. Doch für Betroffene ist das eine grosse Herausforderung.» Melanie S. lebt heute mit ihrem neuen Partner zusammen. «Für ihn ist die Situation oft schwierig. Aber er unterstützt mich, so gut er kann.»
Umso wichtiger sei die gegenseitige Unterstützung durch die Gruppe. Betroffene hätten es einfacher, sich gegenseitig zu helfen. Oder wie es Melanie S. sagt: «Bei anderen auszuräumen, ist einfacher als bei sich selbst.»