Auf seiner Tour durch Europas Hauptstädte hat Wolodimir Selenski auch einen Stopp im Vatikan eingelegt. Es ist ein schwieriges Gelände für den ukrainischen Präsidenten.
Nach Italien reist Wolodimir Selenski eigentlich gerne. In Forte dei Marmi am Ligurischen Meer soll er ein Sommerhaus besitzen. Und in der Hauptstadt Rom wird er jeweils mit offenen Armen empfangen. Die Regierungschefin Giorgia Meloni steht konsequent an der Seite des ukrainischen Präsidenten und hält trotz gelegentlichen Russland-freundlichen Querschüssen ihres Koalitionspartners Salvini an diesem Kurs fest. Am Donnerstagabend hat sie dies bei einem Treffen mit Selenski in Rom einmal mehr bekräftigt – und zugleich angekündigt, im nächsten Sommer eine Wiederaufbaukonferenz in der Ewigen Stadt durchzuführen.
Weniger harmonisch geht es jeweils zu und her, wenn Selenski vatikanisches Territorium betritt. Sein letzter Besuch im Mai vor einem Jahr solle sich am Rande eines diplomatischen Totalschadens bewegt haben, heisst es in Rom. Der Papst und der Präsident hätten komplett aneinander vorbeigeredet.
Am Freitag nun war Selenski erneut im Apostolischen Palast zugegen. Über den Inhalt der Gespräche weiss man nicht allzu viel. Immerhin scheint diesmal ein Eklat vermieden worden zu sein.
Selenski verspricht sich vom Heiligen Stuhl einerseits Unterstützung dabei, Russland zur Freilassung von ukrainischen Kriegsgefangenen zu bewegen. Zum anderen ist der Papst für Selenski eine Art Brückenbauer zu Weltgegenden, die eine distanziertere Sicht auf das Kriegsgeschehen haben als die Europäer oder die Amerikaner und darin in erster Linie ein Hindernis für die Entwicklung der Weltwirtschaft sehen. Für Selenski gilt es zu vermeiden, dass sie sich auf die Seite Russlands stellen.
Fatales Interview
Doch viel mehr dürfte er sich vom Pontifex nicht erhoffen. Dazu ist das Misstrauen zu gross. Der Papst tut sich schwer mit dem Ukraine-Krieg. Bei seinen Auftritten vor den Gläubigen beklagt er zwar jeweils das Leiden und den Schmerz der betroffenen Bevölkerung. Doch seine Positionierung in dem Konflikt wirft Fragen auf.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hatte er es zunächst tunlichst vermieden, den Aggressor Putin beim Namen zu nennen; Einladungen aus Kiew, das überfallene Land zu besuchen und damit ein Zeichen zu setzen, schlug er aus beziehungsweise beantwortete er nur zögerlich. Die Zurückhaltung trug ihm bald den Vorwurf ein, ein «Schweigepapst» zu sein wie Pius XII., der während des Zweiten Weltkriegs dem Massenmord an den Juden unbeteiligt zugesehen habe. In der Kurie und an der Basis war das Missfallen mit Händen zu greifen.
Das Franziskus-Lager wies demgegenüber darauf hin, dass der Papst sich die Türen zu Russland offen halten und eine Rolle als Vermittler übernehmen wolle. Ausserdem gehe es ihm darum, den Konflikt nicht religiös aufzuladen – was allerdings schon längst geschehen ist, nachdem der Moskauer Patriarch Kirill sich von Anbeginn auf die Seite Putins geschlagen hatte.
Mit etwas Wohlwollen konnte man die Politik des Heiligen Stuhls zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen noch als den Versuch interpretieren, keine Fehler zu begehen. Doch es dauerte nicht lange, bis Franziskus die Ukraine und ihre Unterstützer mehr oder weniger offen brüskierte.
In einem denkwürdigen Interview mit dem «Corriere della Sera» im Mai 2022 sagte er, die Präsenz des westlichen Militärbündnisses in den Nachbarstaaten Russlands habe die russische Invasion «vielleicht erleichtert». Womöglich habe «das Bellen der Nato an Russlands Tür» für eine Eskalation des Konfliktes gesorgt.
Lob der «grossen Mutter Russland»
Rund ein Jahr später lobte er anlässlich einer Videokonferenz mit russischen katholischen Jugendlichen die russische Kultur und ermutigte sie, ihre Herkunft nicht zu vergessen. «Ihr seid Erben des grossen Russland – des grossen Russland der Heiligen, der Könige, des grossen Russland von Peter dem Grossen, von Katharina II., des grossen russischen Reiches. Es hat so viel Kultur, so viel Menschlichkeit. Ihr seid die Erben der grossen Mutter Russland. Geht vorwärts!» In der Ukraine sprach man sogleich von «imperialistischer Propaganda» – der Kreml lobte den Papst derweil als Kenner der Geschichte und fand die Äusserungen des Pontifex «sehr positiv».
Es vergingen nur wenige Monate, dann legte Franziskus nach – in einem im Februar dieses Jahres aufgezeichneten Interview mit dem Tessiner Fernsehen. Indem er im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg missverständlich vom Hissen der «weissen Fahne» sprach, erweckte er den Eindruck, das von Putin angegriffene Land zur Kapitulation bewegen zu wollen. Ein Aufschrei ging durch die europäischen Metropolen, der beim Heiligen Stuhl akkreditierte Botschafter der Ukraine fragte sinngemäss, ob man im Vatikan eigentlich die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen habe.
Schliesslich sah sich die Presseabteilung zu einer Präzisierung gezwungen. Sie betonte, Franziskus habe im Grunde nur wiederholt, was er immer wieder gefordert habe, nämlich die Schaffung von Bedingungen für eine diplomatische Lösung auf der Suche nach einem gerechten und dauerhaften Frieden.
Ein Radikal-Pazifist?
Es ist mittlerweile eine lange Serie von Äusserungen und Auftritten des Papstes, die nicht geeignet sind, bei Wolodimir Selenski Vertrauen zu schaffen – was aber eine zentrale Voraussetzung für die Übernahme einer Vermittlerrolle wäre. Es scheint, als habe sich das Oberhaupt der katholischen Kirche diesbezüglich selbst aus dem Spiel genommen.
An Erklärungsversuchen mangelt es nicht. Franziskus sei halt kein Europäer, wird etwa vorgebracht. Als Argentinier habe er eine völlig andere Sicht auf den alten Kontinent als seine Vorgänger im Amt, Papst Benedikt XXI. aus Deutschland und Papst Johannes Paul II. aus Polen, die beide die Schrecken des Zweiten Weltkriegs miterlebt hätten. Manche Beobachter verweisen zudem auf seinen verklausulierten Antiamerikanismus, dessen Wurzeln sie in seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires vermuten. Als einen «Radikal-Pazifisten» wiederum bezeichnen ihn Dritte; er bringe es einfach nicht über sich, sich in einem Konflikt auf eine Seite zu stellen, sondern stelle stets den Frieden und das Ende der Gewalt in den Mittelpunkt.
Bleibt die Frage, ob der Pontifex die aufgeworfenen Fragen nach den Aufregungen der letzten Zeit nun etwas umsichtiger angeht. Nein, sagen seine Kritiker und verweisen auf den jüngsten Personalentscheid des Papstes. Als Franziskus vor Wochenfrist die Ernennung von 21 neuen Kardinälen bekanntgegeben habe, habe ausgerechnet einer wieder gefehlt: der Grosserzbischof von Kiew und höchste katholische Würdenträger in der Ukraine, Swjatoslaw Schewtschuk.
Schewtschuk gehörte zu den lautesten Kritikern des Papstes, als dieser im Sommer vor einem Jahr die «grosse Mutter Russland» gelobt hatte. Möglich, dass er dafür nun bestraft wird.