Der Politikwissenschafter Hiroshi Nakanishi war an der Ausarbeitung der neuen Verteidigungspolitik Japans beteiligt. Er ist optimistisch, was den Frieden im Pazifik betrifft.
Herr Nakanishi, Japan rüstet seine Selbstverteidigungskräfte auf, baut Flugzeugträger, will ballistische Langstreckenraketen erwerben, gleichzeitig schreibt die Verfassung den Pazifismus vor: Wie geht das?
Hiroshi Nakanishi: Die japanische Öffentlichkeit nimmt die nordkoreanische Raketen- und Atomwaffenfähigkeit sowie die Aufrüstung Chinas zunehmend als Bedrohungen wahr. Die russische Invasion der Ukraine hat diese Wahrnehmung verstärkt, und die japanische Öffentlichkeit akzeptiert seither die erhebliche Stärkung der Verteidigungskapazitäten Japans. Ende 2022 hat die japanische Regierung eine neue Verteidigungs- und Sicherheitspolitik verabschiedet, auch als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Seitdem erlebe ich den Widerstand gegen die Selbstverteidigungskräfte und das Bündnis mit den USA geringer als zuvor.
War also der Ukraine-Krieg ausschlaggebend dafür, dass sich Japan vom Pazifismus entfernt?
Japan ist das Land ausserhalb Europas, das wohl am meisten vom russischen Angriff schockiert und betroffen war. Russland grenzt über das Meer an Japan. Ausserdem spielt der Territorialkonflikt um eine Inselgruppe im Norden Japans eine wichtige Rolle in den Beziehungen Japans zu Russland. Russland wurde in der öffentlichen Wahrnehmung Japans nie als freundliche Macht angesehen. Mit der grossangelegten Invasion der Ukraine, mit den Bildern der Kriegsverbrechen wie aus Butscha hat sich diese Wahrnehmung nochmals verstärkt. Der Krieg in der Ukraine dominierte lange Zeit die Berichterstattung in Japan. Das Interesse am Kriegsverlauf ist hoch. Ministerpräsident Kishida konnte die Menschen mit seiner Rhetorik davon überzeugen, dass das, was heute in der Ukraine geschieht, morgen in Ostasien geschehen kann.
Was meinte er damit?
Kishida deutete darauf hin, dass nach Russland auch China Gewalt anwenden könnte, um Gebietsansprüche durchzusetzen – etwa gegen Taiwan, Gebiete im Südchinesischen Meer oder die Senkaku-Inseln, die von Japan kontrolliert werden.
Ist China also eine Bedrohung für Japan?
Offiziell definiert Japan China nicht als Bedrohung. In der neuen Sicherheitsstrategie wird für China nicht der Begriff Bedrohung, sondern Herausforderung verwendet. Denn China ist ein wichtiger Faktor für die japanische Wirtschaft und ein zentraler Akteur im asiatisch-pazifischen Raum. Japan will nicht, wie im Kalten Krieg, eine klare Trennung zwischen Freunden und Feinden vornehmen. China als Nation wird immer noch als möglicher Partner für eine Zusammenarbeit und als Gegenpart für einen konstruktiven Wettbewerb gesehen. Aber es gibt Entwicklungen, die als potenzielle Bedrohungen wahrgenommen werden – etwa die Gebietsansprüche auf die Senkaku-Inseln oder Wirtschaftsspionage. Am meisten Sorgen bereitet Japan die Drohung Chinas, den Status quo Taiwans wenn nötig einseitig verändern zu wollen.
Zur Person
Hiroshi Nakanishi, Politikwissenschafter
Hiroshi Nakanishi ist Professor für Politikwissenschaft an der Graduate School of Government, Universität Kyoto. Zu seinen Fachgebieten gehören unter anderem die internationalen Beziehungen und die Entwicklung der japanischen Aussen- und Sicherheitspolitik. 2022 war er Mitglied und Vorsitzender in Beratungsgremien der Regierung von Ministerpräsident Fumio Kishida. In dieser Funktion war er an der Erörterung der Verteidigungskapazitäten und der Ausarbeitung der Strategie für Japans nationale Sicherheit beteiligt.
Wie wahrscheinlich ist es, dass China Taiwan annektiert – und damit den Status quo bricht?
Das hängt davon ab, wen man fragt. In Japan schätzen viele Experten, die sich vertieft mit China auseinandersetzen, die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konfliktszenarios um Taiwan als gering ein. Laut ihnen ist Xi Jinpings Hauptinteresse der Machterhalt der Kommunistischen Partei in China. Ein militärischer Konflikt mit den USA, Japan oder einem anderen Staat wäre ein hohes Risiko dafür. Experten hingegen, die sich mit den internationalen Beziehungen und insbesondere mit Verteidigungspolitik auseinandersetzen, tendieren zum Worst-Case-Szenario. Auch weil China selber die Möglichkeit einer Gewaltanwendung gegen Taiwan nicht leugnet. Diese Experten sind der Ansicht, dass China etwa 2027 versuchen könnte, Taiwan unter seine Souveränität zu stellen.
Und wenn ich Sie frage?
Ich tendiere zu den China-Experten, angesichts der chinesischen Geschichte und Tradition. China ist in der Regel ein risikoscheues Imperium. Daher gehe ich von einer geringen Wahrscheinlichkeit aus, dass China Gewalt anwenden wird. Aber zum Tango gehören bekanntlich zwei – Aktionen der USA oder Taiwans könnten meine Einschätzungen ändern.
Was wären die Folgen für Japan, wenn es zum Worst-Case-Szenario käme?
Japan würde wahrscheinlich involviert werden. Denn nach japanischem Verständnis werden sich die USA für die Verteidigung Taiwans einsetzen. Japan wird die USA unterstützen, während wir Taiwan nichtmilitärische Unterstützung bieten werden. Japan und China würden also auf Konfrontationskurs sein, mit potenziell schwerwiegenden Schäden für die wirtschaftlichen Beziehungen und die Bevölkerung beider Länder. Ich glaube nicht, dass die japanische Regierung einen konkreten Plan für dieses Szenario ausgearbeitet hat. Aber die Verantwortlichen und die Experten sind sich dessen bewusst und stellen entsprechende Überlegungen an.
China, Russland und Nordkorea arbeiten immer enger zusammen. Wie beobachtet man diese Zusammenarbeit in Japan?
Für sich genommen, stellen Russland und Nordkorea nur begrenzte Bedrohungen dar. Russland ist laut Militärexperten keine eigenständige militärische Bedrohung im pazifischen Raum, die Japan oder den US-Streitkräften dort erheblichen Schaden zufügen könnte. Japan verlässt sich hier im Grunde genommen auf die Abschreckungsfähigkeit der USA. Die nordkoreanischen Raketen und Atomwaffen sind zwar eine grosse Bedrohung für Japan. Aber angesichts der geografischen Lage ist es unwahrscheinlich, dass Nordkorea Japan oder US-Stützpunkte in Japan angreifen könnte, ohne in einen Kampf mit Südkorea verwickelt zu werden. Die Fähigkeit Südkoreas, gegen Nordkorea vorzugehen, ist ein wichtiger Faktor in diesem Szenario. Wirklich bedrohlich und besorgniserregend wäre hingegen eine kombinierte Aktion dieser Staaten. Zum Beispiel wenn Russland und Nordkorea die japanischen oder die US-Streitkräfte daran hindern würden, im Ostchinesischen oder Südchinesischen Meer zu agieren, während China dort gegen Taiwan vorgeht.
Wie wappnet sich Japan für dieses Szenario?
Angesichts der Bedrohung durch Nordkorea oder Russland verlagert sich das strategische Denken Japans mehr und mehr auf Allianzen und Kooperationen. Die Antwort auf das erwähnte Szenario ist klar eine bessere Koordination mit unseren Verbündeten und mit befreundeten Staaten wie den USA oder Südkorea.
Wird dies in der Schaffung eines Verteidigungsbündnisses im Pazifik resultieren, ähnlich der Nato im Westen?
In Europa, innerhalb der Nato und der EU, aber auch in Staaten, die nicht dazugehören, wie der Schweiz, existiert ein allgemeiner Konsens darüber, was die europäischen Sicherheitsinteressen sind. Im asiatisch-pazifischen Raum ist das anders. Die Philippinen beispielsweise haben Territorialkonflikte mit China. Sie sind zwar mit den USA verbündet, würden sich aber bei dem Szenario nicht einmischen, in dem Nordkorea oder Russland die USA oder Japan angreifen würden. Auch die Vereinigung südostasiatischer Länder, die Asean, wird ihren Mitgliedern wahrscheinlich raten, sich in Bezug auf den Konflikt zwischen den USA und China neutral zu verhalten. Die sicherheits- und militärstrategische Landschaft im asiatisch-pazifischen Raum ist geografisch, politisch und militärisch derart vielfältig, dass ein kollektives Bündnis wie die Nato keine praktikable Option ist.
Trotzdem kritisiert China die zunehmenden Sicherheitskooperationen, spricht von Blockbildung und Konfrontation. Sind die Sorgen aus chinesischer Sicht begründet?
Das Ausmass der militärischen Aufrüstung Chinas bereitet Japan und anderen Staaten Sorgen. Auch weil die Absichten dahinter undurchsichtig sind. Es ist also eine natürliche Reaktion, dass sie ihre eigene Sicherheit stärken und enger untereinander kooperieren – ein klassischer Fall des Sicherheitsdilemmas. Trotzdem arbeiten wir daran, China das Misstrauen gegenüber einer vermeintlichen Allianz zu seiner Eindämmung zu nehmen. Japan und andere Länder der Region wollen keinen kalten Krieg beginnen. Wir wollen lediglich eine einseitige militärische Veränderung des Status quo im Pazifik vermeiden und günstige Voraussetzungen für den diplomatischen Dialog schaffen.