Das Centovalli bietet eine der faszinierendsten Bahnstrecken in Europa. Und in Intragna zum Beispiel kann man hervorragend essen, im Ristorante della Stazione.
Wer den wilden Zauber des Centovalli erkunden will, steige in die charmante Centovallina: Die vor hundert Jahren errichtete Bahnstrecke zwischen Locarno und Domodossola ist wohl eine der spektakulärsten und sinnlichsten Europas und ein Erlebnis für sich. Doch macht das Züglein auch an Orten halt, die das Aussteigen lohnen.
Kurz nach Ponte Brolla überquert es auf einer 75 Meter hohen Stahlbrücke den Isorno und erreicht kurz darauf Intragna, dessen weitherum sichtbarer Kirchturm im mittelalterlichen Dorfkern als grösster im Tessin gilt. Und gleich neben der Haltestelle, im zitronengelb leuchtenden Haus, sollten Hungrige einkehren.
Das Ristorante della Stazione blühte unter dem Beinamen «da Agnese e Adriana» jahrzehntelang als Gemeinschaftswerk der Familie Broggini, mit der Mutter Agnese als Gastgeberin und der Schwiegertochter Adriana als Küchenchefin. Seit Anfang 2023 hat ein junges Wirtepaar die Pacht inne: Am Herd wirkt Yanick Walker, dessen Walliser Heimat dank der Centovallina gar nicht so weit scheint, als souveräne Gastgeberin agiert seine Partnerin, die im Tessiner Bergdörfchen Indemini aufgewachsene Sommelière Eloa Geiser. Aus den zwei Vornamen haben die beiden, inspiriert vielleicht von Glamourpaaren wie «Brangelina», für das Ristorante den Beinamen «da Yanelo» kreiert.
Ein Abstecher zu dieser Gaststätte empfiehlt sich aus mehreren Gründen, wie zwei Testbesuche in den letzten Monaten zeigten. Ein Trumpf ist der grosse, charaktervolle Speisesaal auf der hinteren, den Gleisen abgewandten Hausseite. Dort bietet die sommers oft geöffnete Fensterfront eine Aussicht in die Terre di Pedemonte, die Weite mit Tiefe verbindet und einem das Herz öffnet fast wie ein Meerblick. Draussen tummeln sich keine Wale, sondern Wildschweine, mitten im Dorf treffen wir auf eine Bache mit ihrem Kleinen. Aber wir heissen weder Asterix noch Obelix, uns reizen andere Köstlichkeiten.
Der Chef, in Saas-Fee ausgebildet und im Zürcher «Baur au Lac» in die gehobene Cuisine française eingetaucht, verbindet Tessiner Traditionen mit Spezialitäten aus der übrigen Schweiz und einem mediterranen Einschlag. Manches versieht er mit einem speziellen Dreh, ohne dass es überdreht wirkt – nur hier und da platziert er für unseren Geschmack ein Schäumchen zu viel auf den Tellern.
Dem Menù Degustazione in drei oder vier Gängen (Fr. 89.50 / 102.50, Weinbegleitung ab Fr. 39.50) ziehen wir die freie Wahl vor, um möglichst viel versuchen zu können. Einige Elemente des Menus sind einzeln bestellbar – und eines davon, das offene Raviolo (Fr. 22.50), wird zum Höhepunkt des Abends. Die Chefin sagt, ihr Mann habe sie einst mit diesem Gericht um den Finger gewickelt. Wir verstehen: Hauchdünn ist der Teig, betörend der Jus, verführerisch die lange geschmorte Füllung, bei der die Ochsenschwanzsuppe auf der Karte Pate steht.
Ein Cordon bleu (Fr. 48.50) mit Raclettekäse in der Füllung ist saftig, knusprig und erhält mit einem Kartoffelsalat die ideale Beilage. Zur Kalbspiccata nach Hausrezept mit Pilzen werden am Tisch aus dem Kupferpfännchen Tomatenspaghettini geschöpft – diese hinreissend schlichte Pasta findet sich auch auf der Kinderkarte (Fr. 14.50). Perfekt zubereitete Kalbsleberli an Marsalajus (Fr. 42.50) stehen jeden Dienstag auf der Karte (und manchmal zum Glück auch an anderen Tagen). Die dazu bestellte Rösti, flach wie eine Flunder, könnte kaum knuspriger und besser sein. Wahlweise wären als Beilage auch Taglierini, Polenta, Risotto erhältlich, wie beim Brasato al Merlot (Fr. 44.–) , den es samstags gibt.
Als Begleitung bietet sich eine schöne Auswahl an Tropfen aus dem Tessin und Italien an, zum Abschluss eine Reihe einheimischer Schnäpse. Und beim Anstossen dankt man dem Himmel, dass die Zeiten hier nicht mehr so bitter sind wie in den Jahrhunderten, als Intragna das Zentrum des Handels mit Kaminfegerkindern in ganz Europa war.
Heute zieht das Tessin verwöhntere Gäste an, von denen es manche schon als Zumutung empfinden, dass viele Grotti winters geschlossen sind. Umso willkommener ist die Nachricht, dass das Ristorante della Stazione ab 2026 zum Ganzjahresbetrieb werden soll. Nächsten Januar und Februar wird pausiert, bis und mit Silvester aber ist es offen. Das Haus bietet übrigens auch zwölf Hotelzimmer – und eine Weiterreise mit der Centovallina bis Domodossola am nächsten Tag verspräche angesichts prächtiger Herbstwälder einen besonderen Augenschmaus.
Ristorante della Stazione da Yanelo
Piazza stazione 5, 6655 Intragna (TI)
Bis Ende Jahr Sonntagabend bis Mittwoch geschlossen.
Telefon 091 796 12 12
Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.
Die Sammlung aller NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.