Für Erdogan und für die Kurden in der Türkei gibt es Anreize für eine Zusammenarbeit. Von einem neuen Friedensprozess zu sprechen, ist aber verfrüht.
Die Türkei reagiert hart auf den Terrorangriff gegen das staatliche Rüstungsunternehmen Tusas. Seit dem Anschlag vom vergangenen Mittwoch mit fünf Todesopfern, den die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für sich beansprucht, fliegt die türkische Luftwaffe Angriffe gegen Ziele im Nordirak und im Nordosten Syriens.
Dabei sind laut Präsident Recep Tayyip Erdogan bis am Montag 213 Kämpfer getötet und 470 militärische Ziele zerstört worden. Kurdische Organisationen nennen auch zivile Opfer. In den Kandil-Bergen im Nordirak befindet sich das Hauptquartier der PKK. Im Nordosten Syriens sind die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG die dominierende Kraft. Ankara betrachtet die YPG als syrischen Ableger der PKK.
Vorzeitiges Ende der Annäherung?
Der Terrorangriff vom Mittwoch wird in den Zusammenhang einer möglichen Kursänderung in der türkischen Kurdenpolitik gestellt, die seit einigen Wochen im Land zu reden gibt. Anfang Oktober hatte Erdogans Verbündeter Devlet Bahceli von der ultranationalistischen MHP dem Vorsitzenden der prokurdischen DEM-Partei öffentlich die Hand gereicht. Angesichts der minderheitenfeindlichen Politik der MHP, zu deren Dunstkreis auch die berüchtigten Grauen Wölfe gehören, war das ein aussergewöhnlicher Schritt.
Später schlug Bahceli sogar vor, den inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan im Parlament auftreten und dort die kurdischen Separatisten zur Niederlegung der Waffen aufrufen zu lassen. Bereits davor war bekanntgeworden, dass die türkischen Behörden mit Öcalan Gespräche führen.
Doch dann kamen der PKK-Anschlag und die Vergeltungsangriffe der türkischen Armee. Ist damit das neue Kapitel in Ankaras Kurdenpolitik bereits wieder geschlossen, noch bevor es richtig geöffnet werden konnte?
Günstiges internationales Umfeld
Danach sieht es nicht aus. Erdogan sagte am Montag, man wisse, welche Botschaft der Anschlag aussenden solle. Doch Terroristen könnten das Land nicht von seinem Kurs abbringen. Eine Absage an die Annäherungsversuche der letzten Wochen war das nicht.
Das sieht auch Özgür Ünlühisarcikli von der Denkfabrik German Marshall Fund in Ankara so. «Die PKK hat gezeigt, dass sie weiterhin Schaden anrichten kann. Und die Türkei demonstriert ihre Fähigkeit, Vergeltung zu üben. Ein Hindernis für weitere Gespräche ist das nicht.»
Der Aussenpolitikexperte verweist auf das internationale Umfeld: Die zunehmende Instabilität in der Nachbarschaft sowie die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten veranlassten Ankara in der Regel dazu, andernorts die Risiken zu minimieren, sagt Ünlühisarcikli.
Die letzte Öffnung gegenüber den Kurden sei nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien erfolgt. Nun mache man sich vor allem über die Auswirkungen eines möglichen Krieges zwischen Israel und Iran Sorgen. Seinen Handschlag mit den kurdischen Politikern im Parlament begründete Bahceli denn auch mit der Bedrohungslage, in der alle Parteien des Landes zusammenstehen müssten.
Syrische Kurden in der Defensive
Die Sorge über die regionalen Entwicklungen ist echt, trotz teilweise skurrilen oder jeglicher Grundlage entbehrenden Äusserungen. Ein Kommentator schreibt, schon in der Schlacht von Manzikert von 1077 gegen Byzanz, die der türkischen Besiedlung Anatoliens den Weg ebnete, hätten Kurden und Türken gemeinsam gekämpft. Und Erdogan warnte sogar vor angeblichen israelischen Angriffsplänen gegen die Türkei.
Die Kurden sind ihrerseits in der Defensive, weil die Ungewissheit über die künftige amerikanische Truppenpräsenz in Syrien immer grösser wird. Erst recht gilt das für den Fall eines Wahlsiegs von Donald Trump, der alle amerikanischen Soldaten umgehend aus dem Bürgerkriegsland abziehen möchte. Die Amerikaner sind die engsten Verbündeten der kurdischen Milizen in Syrien.
Ein Abzug, der unabhängig vom Wahlausgang auf der amerikanischen Agenda steht, würde das Machtverhältnis in Syrien nachhaltig verändern. «All das sind günstige Voraussetzungen für einen Annäherungsprozess zwischen Ankara und der kurdischen Bewegung», sagt Ünlühisarcikli.
Erdogan braucht neue Partner
Dennoch sehen die meisten Beobachter den Haupttreiber für die jüngsten Entwicklungen in der Innenpolitik. «Erdogan muss seine Machtbasis neu aufstellen», sagt der Politikwissenschafter Berk Esen von der Sabanci-Universität in Istanbul.
Die Allianz mit der ultranationalistischen MHP reiche nicht mehr aus, um die notwendigen Mehrheiten zu beschaffen. Angesichts der wirtschaftlichen Nöte im Land, die sich infolge der – dringend notwendigen – geldpolitischen Kehrtwende vorübergehend noch verschärfen, dürfte die Regierung weiter an Zustimmung verlieren. «Erdogan braucht neue Partner», sagt Esen. «Für die Verfassungsreform, mit der er sich eine weitere Amtszeit sichern möchte, aber auch darüber hinaus. Hier kommen die Kurden ins Spiel.»
Das ist nicht abwegig. Erdogans AK-Partei war anfangs auch für viele Kurden eine Hoffnungsträgerin. Besonders in religiös-konservativen Schichten der Minderheit gibt es auch heute noch Sympathien für die Partei, die in den ersten Jahren für mehr Offenheit gegenüber Minderheiten stand, als man das von den kemalistischen Eliten kannte. 2015 kamen allerdings die Kehrtwende und das Bündnis mit den Nationalisten der MHP. Seither ist Erdogans Kurdenpolitik vor allem von Repression geprägt.
Kurdische Ernüchterung über Opposition
«Das Misstrauen gegenüber der jüngsten Charmeoffensive ist auf kurdischer Seite gross, besonders in Bezug auf Bahceli», sagt der Politologe Esen. Andererseits herrsche zumindest teilweise auch Ernüchterung über die Linie der Opposition.
Die DEM-Partei und davor ihre Vorgängerin HPD haben bei den letzten Wahlen jeweils die Allianz der Regierungsgegner unterstützt. Ohne kurdische Unterstützung hätte die Opposition Städte wie Istanbul oder Ankara nicht erobern können. Inwiefern die Kurden davon profitiert haben, wird jedoch unterschiedlich bewertet.
Dass sich dann Erdogans Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen 2023, Kemal Kilicdaroglu, offen bei den Ultranationalisten anbiederte, liess viele Kurden am Sinn der Zusammenarbeit mit der Opposition zweifeln. Fährt man da nicht besser mit Erdogan? Der hat immerhin die Macht, etwas zu verändern.
Der Politikwissenschafter Esen kann sich in diesem Zusammenhang durchaus vorstellen, dass es weitere Gespräche geben wird. Von einem Friedensprozess würde er aber nicht sprechen. «Das zeigt sich schon daran, auf wen sie setzt.»
Die Regierung spreche mit Öcalan, dem verurteilten Anführer einer Terrororganisation. Der kurdische Politiker Selahattin Demirtas, der nie eine Straftat begangen habe und nur wegen seiner Gegnerschaft zu Erdogan im Gefängnis sitze, werde aber weiterhin als Staatsfeind betrachtet. «Das Ziel», so Esen, «ist kein neuerlicher Friedensprozess, sondern die Festigung des autoritären Herrschaftssystems in der Türkei.»