Trumpsche Politik ist zur Normalität geworden. Das ist auch ein Erfolg der hybriden Kriegsführung Russlands. Gegen die reine Machtpolitik braucht es eine Rückbesinnung auf den aufgeklärten Geist der europäischen Einigung.
Dort, wo die lettische Hauptstadt Riga mit dem europäischen Bahnnetz verknüpft wird, räumen die Bauarbeiter noch immer die Trümmer der Sowjetzeit aus dem Weg. Die Rail Baltica, eine Hochgeschwindigkeitslinie, die Finnland mit Polen verbinden soll, bringt die drei baltischen Staaten näher an Europa – und beendet die periphere Lage am Rande Russlands. Selbst die Schienen werden nun im Abstand der europäischen Normalspur verlegt.
Rund 85 Prozent der 7 Milliarden Euro, die das Infrastrukturprojekt kostet, bezahlt die EU und verwendet dafür das Instrument der Connecting Europe Facility. Brüssel will mit der Rail Baltica die Integration ganz Europas stärken. Für das Baltikum selbst steht die Eisenbahnlinie symbolisch für die Emanzipation von Moskau. Die drei Kleinstaaten sind in die EU eingebunden, um souverän zu sein.
Das Selbstverständnis im Nordosten Europas steht im schroffen Gegensatz zum Hadern im alten Zentrum der Union: In Deutschland und Frankreich lärmt die Opposition gegen die europäische Idee, um den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban herum haben sich die unheimlichen «Patrioten für Europa» zu einer Bewegung zusammengeschlossen. Ihr Ziel: die Desintegration der EU – und die «Remigration» unerwünschter Fremder.
Divide et impera
Diese Programmatik scheint zu verfangen: in Ostdeutschland, in Österreich oder auch in der Slowakei. Die liberale Demokratie, die den Rechtsstaat achtet und die Vielfalt der offenen Gesellschaft schützt, hat gegenüber der autoritären Versuchung einen schweren Stand. Die erneute Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten bestätigt diesen Trend. Die Selbstgefälligkeit der europäischen Politelite gegenüber dem Populismus ist längst verflogen. Trumpsche Politik ist auch in Europa normal geworden.
Ein seltsamer, geschichtsvergessener Reiz des Destruktiven hat Teile des Kontinents erfasst. Der formelle Integrationsprozess stockt bereits seit dem Gipfel von Lissabon 2007. Seither betreibt Brüssel Krisenmanagement: von der Euro- über die Flüchtlings- bis zur Corona-Krise. Die Union steckt schon länger in einer Vertrauenskrise. In der Schweiz hoffen die Gegner neuer Verträge mit der EU insgeheim sogar, dass der neue Nationalismus die Zentrale in Brüssel schwächt und die Vertragsbedingungen besser werden.
Eine solche Europapolitik ist mit Blick auf die geopolitische Lage geradezu fahrlässig. Die Schweiz profitiert maximal von der europäischen Einigung. Dank der EU (und dem Schutz durch die Nato) ist ein bewaffneter Konflikt in der Nähe der Schweizer Grenze weiterhin keine unmittelbare Bedrohung. Richtig gefährlich wird es erst bei einem bewaffneten Konflikt der Nachbarländer – so wie es bis vor achtzig Jahren regelmässig vorkam.
Nun jubeln die EU-Skeptiker über den Wahlsieg Trumps. Statt komplizierter Prozesse mit Brüssel versprechen sie sich Deals in einer multipolaren Welt, die nach reinen machtpolitischen Prinzipien funktioniert. Von einem solchen Europa könnte die Schweiz allerdings nur solange profitieren, wie sie mit ihrer erfolgreichen Wirtschaft den Grossen nicht in die Quere kommt. Als Kleinstaat ist sie existenziell auf verbindliche Regeln und Allianzen angewiesen.
Das gilt auch für die EU-Mitgliedstaaten selbst: Die zentrifugalen Kräfte dienen vor allem dem russischen Präsidenten Putin, der zu einem Juniorpartner des chinesischen Machthabers Xi Jinping geworden ist. Zerfällt Europa, können die einzelnen Blöcke und Staaten gegeneinander ausgespielt werden. Russland, China und die USA unter Trump teilen und herrschen. Die Chance einer strategischen Autonomie in der Auseinandersetzung zwischen den eurasischen Autokratien und dem Westen fällt weg.
Trump als Lautsprecher
In den letzten Wochen hat sich die Konfrontation verschärft: Der Krieg in der Ukraine verschmilzt zunehmend mit dem Konflikt im Pazifik. Die Präsenz nordkoreanischer Soldaten zur Unterstützung der russischen Armee bei Kursk hat die Amalgamierung zweier regionaler Schauplätze zu einem globalen Krieg noch einmal beschleunigt. Südkorea beliefert Polen mit Panzern und die Ukraine mit Wissen über die nordkoreanische Kriegsführung.
Die amerikanische Militärpräsenz in Europa ist die sicherheitspolitische Lebensversicherung der EU und auch der Schweiz. Sie dürfte in den nächsten Jahren ihren Schutzgrad herunterfahren: Die USA, die gegenwärtig mit ihren Flugzeugträgern sowohl in Europa als auch im Nahen Osten und im Pazifik präsent sind, werden sich in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre auf Asien konzentrieren müssen, um die imperiale Expansion Chinas aufzuhalten.
Europa müsste längst eine eigene, konventionelle Abschreckung aufbauen. An der Nordostflanke schreitet der Aufbau militärischer Kraft voran, überraschenderweise auch südlich der Alpen: Die Seemacht Italien hat dieses Jahr für über 8 Milliarden Euro Panzer beschafft und plant den Aufbau von drei mechanisierten Brigaden. Doch Deutschland und auch die Schweiz reden weiterhin vor allem über Geld.
Der geopolitische Druck wird nicht abnehmen, unabhängig davon, wer im Weissen Haus regiert. Trump ist in manchen Bereichen einfach ein Lautsprecher dessen, was in Washington trotz allen politischen Gegensätzen unbestritten ist: Die Europäer sind für ihre Sicherheit selbst verantwortlich. Die Ukraine hat den Wahlsieg Trumps bereits antizipiert und schlägt einen Deal vor: eine starke Armee für die Nato plus die Bodenschätze für einen halbwegs fairen Frieden.
Gemeinsame Lösungen brauchen ein gemeinsames Verständnis
Doch der Rest Europas ist vor allem mit sich selbst beschäftigt – insbesondere Berlin, das einstige Zentrum der Kraftentfaltung der EU. Am Ende der amerikanischen Wahlwoche könnte die Ampelkoalition auseinanderbrechen und für zusätzliche Unsicherheit sorgen. Bundeskanzler Olaf Scholz versucht bereits jetzt, sich und seine Partei, die SPD, auf einen «Friedenskurs» zu bringen – lies: Kiew soll vor Moskau kapitulieren.
Für einen solchen Verrat an der Ukraine braucht es keinen Trump. Es reicht der parteipolitische Opportunismus, der schliesslich die Westbindung Deutschlands auf die Probe stellt. Das ist kein neues Phänomen. Im Gegensatz etwa zu den 1980er Jahren, als die Friedensbewegung gegen den Nato-Doppelbeschluss protestierte, propagieren heute zwei deutsche Parteien offen das russische Narrativ.
Eine, wenn auch nur zaghafte, deutsche Ostorientierung würde die Resilienz der europäischen Demokratien schwer beschädigen, dazu die Tendenz einer Fragmentierung Europas verstärken. Einen österreichisch-ungarischen Sonderbund könnte die EU noch ausgleichen. Ohne das deutsche Engagement ist das europäische Versprechen dagegen ernsthaft infrage gestellt.
Die fahrlässige Leichtigkeit, mit der aus einer berechtigten Kritik am Brüsseler Beamtenapparat eine Ablehnung der EU gezimmert wird, ignoriert die Grundsätze, die zu einer langen Periode des Friedens und des Wohlstands geführt hatten. Mehr als achtzig Jahre kein Krieg, die Überwindung der Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland oder auch die Integration der osteuropäischen Länder scheinen gegenüber dem Egoismus der Gegenwart zu verblassen.
Es rächt sich bitter, dass sich auch die EU in Nebensächlichkeiten verloren hat und auf Wellen in allen möglichen Farben surfte, statt die Union zu demokratisieren. Gemeinsame Lösungen brauchen ein gemeinsames Verständnis und einen breiten Konsens – etwa im Umgang mit der irregulären Migration. Fehlt das Vertrauen, bleibt der Rückgriff auf das, was die Nationalstaaten kontrollieren zu können glauben: die Landesgrenzen.
Der «Föderalismus der freien Staaten»
Diesem Reflex folgt auch die Schweizer Europadebatte. Nach dem Nein zum EWR am 7. Dezember 1992 formierte sich eine Bewegung, die den Tag der Abstimmung zum Ausgangspunkt eines europäischen Aufbruchs betrachtete. Doch die «Generation geboren am 7. Dezember 1992» hat die Argumente der EU-Gegner von damals längst derart verinnerlicht, dass die Skepsis gegenüber jeder weiteren Integration heute wohl zur Mehrheitsmeinung geworden ist.
Doch gerade mit Blick auf die Sicherheitslage muss Europa zusammenrücken – zum Schutz des Friedens, der Souveränität der kleineren Staaten und auch der Demokratie. Es ist der hybriden Kriegsführung Russlands gelungen, die Vorstellung eines «Rechts des Stärkeren» zu verbreiten: Wer militärisch schwächer ist, soll sich fügen. Oder im Umkehrschluss: Wer Widerstand leistet, ist ein Kriegstreiber. Der rhetorische Generalbass ist längst gesetzt, der Sound von Trump II scheint bestens dazu zu passen.
Dieser sozialdarwinistischen, dominanzorientierten Programmatik steht das europäische Friedensprojekt fundamental entgegen. Nur leider hat die EU ihre aufklärerische Basis, die auf der Idee Kants vom «Ewigen Frieden» beruht, aus den Augen verloren: den «Föderalismus der freien Staaten». Dieses Prinzip war bis zur europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg ein Alleinstellungsmerkmal der modernen Schweiz.
Die europäische Idee funktioniert nicht nur über Infrastrukturprojekte wie die Rail Baltica, sondern braucht eine Rückbesinnung auf ihren eigentlichen Geist. Die EU und die Schweiz können mit einer fairen Weiterentwicklung ihrer bilateralen Beziehungen zeigen, dass die Eigenart der Nationalstaaten respektiert wird und Abmachungen auch unter ungleichen Partnern gelten. Ein aufgeklärtes, vielfältiges Europa ist stärker als die starken Männer unserer Zeit.