In «Prima Facie» artet eine sexuelle Affäre in einen Missbrauch aus. Mit ihrem Stück, das am Samstag im Schauspielhaus Premiere feierte, verweist die Dramatikerin Suzie MiIler auf Lücken im Gesetz.
Das Gericht ist kein Theater. Aber es gibt auch hier ein Rollenspiel. Das Eine-Frau-Stück «Prima Facie» der Australierin Suzie Miller verbindet die beiden Instanzen. Es handelt von der erfolgreichen Verteidigerin Tesse Ensler, die, von einem Kollegen sexuell missbraucht, plötzlich zur Anklägerin wird.
Wenn Tesse Ensler auf der Pfauenbühne zuletzt ein Plädoyer hält (Regie: Barbara Weber), dann geschieht eigentlich das, was dem Publikum im Theater oft missfällt. Es wird bewusst und gezielt belehrt durch die Moral von der Geschichte und das Fazit eines Gerichtsfalls: Das Sexualstrafrecht müsse im Sinne der Opfer geändert werden, weil die Täter durch die Unschuldsvermutung zu sehr geschützt seien.
Das Premierenpublikum nimmt die Belehrung mit Geduld und Verständnis entgegen. Es mag einerseits an der engagierten Performance der Schauspielerin Alicia Aumüller liegen, dass die Zuschauer ausdauernd applaudieren und sich zahlreich aus ihren Sesseln erheben. Andrerseits hat Miller, die selbst als Anwältin tätig war, ihr Anliegen plausibel vorgebracht.
Das Gericht als Spiel
Die Vertrautheit mit der juristischen Materie erweist sich allerdings nicht nur als Stärke. Der Text von «Prima Facie» erinnert in seiner Ausführlichkeit und Nüchternheit mitunter an Kanzleisprache, was den Raum für Poesie und nonverbales Schauspiel schmälert. Umso überzeugender der Auftritt von Alicia Aumüller, die Enslers Wandel von der smarten, kühlen Juristin zum zornigen Opfer glaubhaft auf die Bühne bringt.
Das Gericht wird für Ensler als betroffenes Opfer zuletzt zum Ort existenzieller Entscheidungen. Als Anwältin jedoch betrachtet sie es zunächst als ein Spiel. In der Gemütlichkeit ihres luxuriösen Schlafzimmers beschreibt sie sich als Taktikerin. Sie warte stets auf einen passenden Moment, um den Prozessverlauf durch einen Einspruch zu steuern. Dann versuche sie, die Zeugen im Kreuzverhör in Widersprüche zu verwickeln.
So könne sie bei Gericht jenen Zweifel wecken, der ihre Mandanten entlaste. Freisprüche verbucht sie als Siege, selbst wenn sie annehmen muss, dass sich die Angeklagten tatsächlich eines Verbrechens und insbesondere eines sexuellen Übergriffs schuldig gemacht haben.
Die Anwältin Tesse Ensler bewegt sich stets gut gekleidet unter gutgestellten Anwälten, die ihrem Beruf gegenüber alle eine spielerische Distanz an den Tag legen. Man trifft sich nach Prozessen in der Bar und zuvor in der Kanzlei. Aus Enslers Beziehung zu einem Kollegen entspinnt sich allmählich eine Affäre. Sie verbringen einen Abend zusammen, der Alkohol fliesst reichlich, sie landen im Bett. So kommt es anfangs zu einvernehmlichem Sex. Später aber fühlt sich die Juristin von ihrem Kollegen missbraucht.
Delikt in Unschärfe
Das Delikt, das die Anwältin trotz frühen Zweifeln der Polizei meldet, wird vorerst in Unschärfe belassen. Das Stück vermeidet damit nicht nur jeglichen Voyeurismus; es zeigt auf diese Weise auch die Verwirrung des Opfers. Zwei Jahre später erst findet der Prozess statt, in dem die Anwältin nun selbst durch die Verteidigung in die Mangel genommen wird. Sie kann sich an die Details der Vergewaltigung erinnern. Die Rahmenbedingungen aber sind vom Nebel der Amnesie verschleiert. Genau dies macht sich die Gegenseite zunutze.
Wenn der Täter zuletzt freigesprochen wird, zweifelt man tatsächlich an der Richtigkeit des Sexualstrafrechts, das laut Suzie Miller nur die Sicht der Männer berücksichtigt. Man fragt sich allerdings auch, ob ein Gericht überhaupt für Gerechtigkeit sorgen kann in den Sphären zweisamer Intimität.