Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart gibt Ende Monat das Kommando über das gegenwärtig exponierteste Kommando der Nato ab: das Multinationale Korps Nordost. Von Sandrart plädiert dezidiert für eine offensive Mentalität in der Verteidigung.
Herr General, Sie sind Panzermann, kann die Bundeswehr das Handwerk noch: das «Gefecht der verbundenen Kräfte»?
Tatsächlich bin ich bei der Panzertruppe gross geworden – und auch von der Zeit zwischen 1982 und 1989 beeinflusst, der Zeit vor dem Ende des Kalten Kriegs. Deshalb bin ich auch vom Gefecht der verbundenen Kräfte geprägt, der Manöver-Kriegsführung mit dem Kampfpanzer im Zentrum. Das ist eine Erfahrung, auf die jüngere Kameraden nicht mehr zurückgreifen können – egal, ob sie Deutsche, Polen oder Amerikaner sind. Sie kennen die Stabilisierungs- und Friedenseinsätze in Afghanistan oder Afrika und haben deshalb ein ganz anderes Verständnis des Gefechts. In Afghanistan kämpften wir auf der taktischen Ebene. Der kriegsähnliche Zustand beschränkte sich auf einen Raum von 500 auf 500 Meter, vielleicht 1000 mal 1000 Meter. Daneben ging das zivile Leben weiter. Auch der Gegner war ganz anders.
Der Gegner ist heute die russische Armee.
Wir müssen uns heute auf einen Gegner einstellen, der in der Entscheidungsfindung viele Vorteile auf seiner Seite hat, der über das komplette Spektrum der Fähigkeiten zur modernen Kriegsführung verfügt und auch den Willen hat, sein Potenzial tatsächlich einzusetzen, egal zu welchem Preis.
Dafür braucht es eine andere Mentalität als in der Zeit der Stabilisierungseinsätze.
Wir müssen akzeptieren, dass wir aus einer rein akademischen Betrachtung der Bedrohung in eine reale Phase der Bedrohung geraten sind. Wir tun uns schwer damit, aber wir können uns diese akademischen Geistesübungen gar nicht mehr erlauben, denn alles, was wir tun, muss jetzt auf die Realität ausgerichtet sein. Diese mentale Einstellung muss sich durchsetzen: bei den Soldaten, bei den militärischen Führern, insbesondere bei Generalen wie mir. Dieses Verständnis muss sich aber auch in der Gesellschaft durchsetzen und in der Politik. Das Prinzip Hoffnung ist nicht wirklich zukunftsfähig.
Reicht die Zeit für diesen Mentalitätswechsel?
Nun, ich bin nicht dafür bekannt, sehr geduldig zu sein, und sage deshalb klar: Wir haben keine Zeit. Wir können nicht mehr zehn Jahre darüber nachdenken und diskutieren, ob wir unsere Mentalität ändern wollen. Bei der gegenwärtigen Lage müssen wir gegebenenfalls in kürzester Zeit verteidigungsbereit sein – und zwar so, dass Moskau auch weiss, dass wir es sind. Wir müssen gleichzeitig auch selber davon überzeugt sein, dass wir gewinnen, wenn wir uns verteidigen.
Vielleicht müssen wir aber auch sagen: Die westliche, dynamische Kriegsführung funktioniert nicht. Russland hat der ukrainischen Armee die Möglichkeit genommen, zu manövrieren. Müssen wir die Kriegsführung neu lernen?
Was Sie sagen, folgt der Logik: Wir verteidigen jeden Zentimeter unseres Raumes – «every inch of territory». Für mich stellt sich hierbei die Frage: Wie machen wir das eigentlich? Sind wir bereit, im Falle der Verteidigung Russland unsere Version von Kriegsführung aufzuzwingen, oder sind wir zu schwach dafür? Wenn wir zu schwach sind, antworten wir mit einer taktischen Aufstellung, die eher die russische Kriegsführung spiegelt und unterstützt. Genau das sehen wir in der Ukraine. «Every inch» funktioniert nicht. Stellen Sie sich vor, dass Russland im Baltikum die gleichen Geländegewinne hätte wie in der Ostukraine. Dann wären zwei Drittel des Baltikums besetzt und die Landbrücke von Weissrussland nach Kaliningrad geschlossen. Oder wenn Sie den Raum von Lettland bis in die Mitte Polens anschauen, dann hätte die russische Armee auch Warschau in Besitz genommen. Das darf nicht passieren.
Was leiten Sie daraus ab?
Ich könnte in so einem Fall die territoriale Integrität der Staaten in meinem Einsatzraum nur schwer wiederherstellen. Das sehen wir in der Ukraine, das ist nahezu unmöglich. Das heisst also: Unser Verständnis von Verteidigung – «every inch of territory» – darf keine Phrase sein. Wir müssen uns aktiv verteidigen.
«Wir müssen den Kampf zum Gegner tragen. Wir müssen die Entscheidung so früh wie möglich suchen.»
Die «aktive Verteidigung» kombiniert defensive und offensive Aktionen.
Der schlichte Panzeroffizier braucht auch in der Verteidigung eine offensive Mentalität. Wir müssen den Kampf zum Gegner tragen. Wir müssen die Entscheidung so früh wie möglich suchen. Aber da bin ich als Militär schnell auf politische Grundsatzentscheide angewiesen. Wir dürfen für Russland nicht berechenbar sein, sonst ist Abschreckung schwierig zu erreichen. Unberechenbarkeit wird aus meiner Bewertung ein wesentlicher Faktor werden, um erfolgreiche Abschreckung zu generieren, die am Ende den Krieg verhindert.
Widerspricht das nicht dem Grundcharakter der Nato als Verteidigungsbündnis?
Wir sind ein defensives Bündnis und werden das bleiben. Aber vom Moment an, in dem wir angegriffen werden, muss ich die Initiative zurückgewinnen – so schnell wie möglich. Ich mache da keinen Unterschied zwischen einem hybriden und einem konventionellen Angriff. Es darf keine roten Linien geben, die Russland einkalkulieren kann.
Diesen Ansatz haben die Ukrainer in Kursk gewählt.
Ja, in meiner Bewertung hätte dieser Vorstoss bereits früher erfolgen müssen.
Sie sagen, Sie machen keinen Unterschied zwischen einem konventionellen und einem hybriden Angriff. Das hat zur Konsequenz, dass man in einem uneindeutigen Umfeld eine eindeutige Kriegsschwelle festlegen muss. Kann das gelingen?
Die Diskussion endet immer mit dem Artikel 5 (dem Nato-Bündnisfall, Anm. geo.). Aber Putin legt ja nicht fest, wann der Artikel 5 gilt. Wir legen fest, wann wir in einem Artikel-5-Fall sind. Dazu kommt, dass auch hybride Kriegsführung in ihrer Auswirkung existenziell sein kann, ohne dass ein einziger Truppenkörper verlegt worden ist. Russland ist da sowieso im Vorteil, weil sich der Kreml über rechtliche Fragen gar keine Gedanken machen muss. Schauen Sie sich einmal meinen Verantwortungsbereich an, der aus vier Gastnationen – Estland, Lettland, Litauen und Polen – besteht. Hierzu kommen die unterschiedlichsten Nationen, die Truppen entsandt haben, um hier ihre Freiheit zu verteidigen: Jedes Land hat einen eigenen rechtlichen Rahmen, um in den Kriegszustand zu kommen.
Das heisst?
Es sind gerade im hybriden Krieg so viele Fragen zu klären, die ein Militär nicht lösen kann. Das sind Fragen, die wir nur gesamtgesellschaftlich und politisch lösen können.
Konkret: Wenn eine bewaffnete Gruppe irgendwo im spärlich besiedelten Osten Lettlands an einem Rathaus eine Phantasiefahne raushängt, wer entscheidet in der Befehlskette, ob die Kanadier eingreifen?
Die involvierten Länder werden das schnell lösen. Aber grundsätzlich muss die Entscheidung von Gastland ausgehen, in dem Fall Lettland.
«Wenn die Ukraine verliert, dann ist Russland bestärkt, den Krieg als Mittel seiner Politik auch in Zukunft gegen uns einzusetzen.»
Das Zentrum der Kraftentfaltung für das Bündnis ist aus meiner Sicht die Bereitschaft der Bevölkerung, die kollektive Verteidigung auch wirklich mitzutragen. Wenn ich den Diskurs in Deutschland anschaue, verstehe ich das Misstrauen in Polen oder im Baltikum.
Dem versuche ich mit meinem persönlichen Einsatz jeden Tag entgegenzuwirken. Das ist mir mit meinem Team in Stettin ganz gut gelungen. Aber als deutscher Soldat sehe ich die Notwendigkeit, dass wir nicht nur Lippenbekenntnisse nach vorne tragen, sondern unsere Versprechen auch mit harten Fakten hinterlegen. Und das ist nicht nur Geld, sondern auch ein resilientes Verständnis dafür, wofür wir bereit sind zu kämpfen.
Unabhängig von der neuen Administration werden die Amerikaner ihre Kräfte auf den Pazifik konzentrieren. Wie stark schwächt das die Nato in Europa?
Die Amerikaner sind nicht als Samariter in Europa oder im Pazifik, sondern aus Interesse der nationalen Sicherheit – und das ganz zu Recht. Sie bleiben deshalb daran interessiert, dass auf der anderen Seite des Atlantiks das freiheitliche Konstrukt erhalten bleibt. Ich fürchte vielmehr, dass die Europäer ihr eigenes Engagement weiterhin möglichst tief halten wollen, weil Amerika ja die Hauptlast trägt. Ich fürchte, dass das unser Problem wird – gerade wenn ich über meine Kinder und Enkelkinder nachdenke, die genauso freiheitlich leben sollen wie wir. Wir können doch die Verantwortung nicht an Amerika und seine Soldaten abgeben, sondern wir müssen uns als Gesellschaft selbst verantwortlich fühlen.
Gegenwärtig fehlt den Europäern die militärische Kraft dazu.
Wir müssen uns fragen: Brauchen wir amerikanische Divisionen, oder brauchen wir das gesamte Fähigkeitsprofil, das bis jetzt nur die Amerikaner haben, um selbständig kämpfen zu können?
Sie meinen die vernetzte Führung . . .
. . . oder die weitreichende Aufklärung. Es gibt eine ganze Menge mehr Fähigkeiten ausser Infanterie. Wir müssen uns so aufstellen, dass Amerika erkennt, dass wir unsere Verantwortung wirklich selber übernehmen. Das macht die USA ruhiger und damit auch unser Bündnis viel stärker. Ich bin ganz sicher, dass wir als Europa – und damit meine ich auch die Schweiz – mehr tun müssen. Die freiheitliche Idee ist stärker als der autoritäre Staat Putins.
Interessant ist auch, dass die Ukrainer in ihrem Siegesplan betonen, die ukrainische Armee könnte die amerikanischen Streitkräfte bei der Verteidigung Europas entlasten.
Die ukrainische Armee ist zurzeit eine der höchstgerüsteten und vor allem kriegserfahrensten Armeen Europas. Wir müssen sehen, wie wir diese Armee in Zukunft einbinden werden. Jetzt geht es aber immer noch darum, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Wenn die Ukraine verliert, dann ist Russland bestärkt, den Krieg als Mittel seiner Politik auch in Zukunft gegen uns einzusetzen.