Die Sozialdemokraten in Deutschland ziehen mit dem unpopulären Olaf Scholz in den Bundestagswahlkampf. Rückblick auf eine Woche, in der die SPD ihrem Spitzenkandidaten nachhaltig geschadet hat.
Die SPD will mit Olaf Scholz in den Bundestagswahlkampf ziehen. Doch selten war der Kanzlerkandidat einer grossen Partei unbeliebter. Und selten hat es in den eigenen Reihen jemanden gegeben, der aus der Sicht der Bürger weitaus eher infrage gekommen wäre: Boris Pistorius, der seit gut zwei Jahren populärste Politiker Deutschlands. Doch er will nicht kandidieren.
Am vergangenen Donnerstagabend zeigen die Nachrichten ein Video von Pistorius, in dem er sagt, er habe «soeben unserer Partei- und Fraktionsspitze mitgeteilt, dass ich nicht zur Verfügung stehe für die Kandidatur für das Amt des Bundeskanzlers».
Die Absage kam unerwartet. Noch vier Tage zuvor hatte Pistorius auf einer Veranstaltung in Passau davon gesprochen, gar nichts ausschliessen zu wollen, höchstens, dass er in seinem Leben noch Papst werde. Zu dem Zeitpunkt konnte er davon ausgehen, von einer stetig wachsenden Zahl der Mitglieder seiner Partei und seiner Bundestagsfraktion auf den Schild für die Kanzlerkandidatur gehoben zu werden.
Wieso sollte sich jemand, den die Mehrheit der Deutschen für den besseren Kanzler als Scholz hält, den auch viele in der SPD-Basis als Hoffnungsträger betrachten, zurückziehen? Was ist in den vier Tagen bis Donnerstag passiert?
Eine Nachricht von Boris Pistorius für Dich. pic.twitter.com/LJKOzSAX6D
— SPD Parteivorstand 🇪🇺 (@spdde) November 21, 2024
Scholz will nicht verzichten
Am Dienstag nach dem Interview mit der Papst-Aussage weilt Pistorius beim Rat für auswärtige Beziehungen in Brüssel. Zur gleichen Zeit ist Kanzler Scholz in Rio de Janeiro auf dem G-20-Treffen und gibt ein Interview. Er macht deutlich, trotz den zunehmenden Zweifeln an ihm nicht auf seine Kandidatur verzichten zu wollen. Als Scholz wieder in Berlin landet, führt Pistorius Gespräche mit seinen Amtskollegen aus Frankreich, Italien, Polen und Grossbritannien. Alles noch business as usual. Oder doch nicht?
Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass an jenen Tagen etwas passiert, was einer Demontage gleichkommt.
Mit jedem Tag, an dem die Kanzler-Debatte weiterläuft, wird Scholz weiter beschädigt. Seit dem 6. November, seit dem Bruch der Koalition, steht er als gescheiterter Kanzler da. In der Debatte erweckt die Partei immer mehr den Eindruck, nicht mehr hinter Scholz zu stehen. Ein Aufbruch, den sich die SPD nach dem Regierungsende erhofft hatte, sieht anders aus.
Pistorius hätte der schädlichen Diskussion ein Ende setzen können, wenn er seine Rede von Donnerstag früher gehalten hätte. Doch das tut er nicht.
Am Donnerstag kommt es zum Showdown. Es redet vor allem Pistorius, einerseits in dem SPD-Video und andererseits im Fernsehen. Was er in den Abendnachrichten sagt, wirft die Frage auf, ob es wirklich so war, wie er es in dem SPD-Video erklärt: Er habe eine «souveräne, persönliche und ganz eigene» Entscheidung getroffen.
Pistorius ist jemand, der sich immer zu Höherem berufen fühlte, geradeheraus, unprätentiös und prinzipienfest, einer, der in der SPD viele an Helmut Schmidt erinnert. Wie er vor der Kamera steht und erklärt, warum er nicht als Konkurrent zu Scholz antreten will, wirkt es, als habe ihm das jemand aufgeschrieben, als lese er den Text ab.
Die SPD-Parteispitze schweigt
Wurde Pistorius zu seiner Erklärung gedrängt? Ja, sagen die einen in der SPD, und zwar von der Parteiführung. Es sind vor allem jene, die sich für die Kandidatur des Ministers ausgesprochen hatten. Nein, sagen andere. Sie sind sich sicher: Es sei seine eigene Entscheidung gewesen.
Aus dem Umfeld von Pistorius ist zu hören, er habe am Donnerstagmittag die Parteispitze informiert, dass «er es nicht macht». Anschliessend soll es ein Treffen im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale in Berlin, gegeben haben. Die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil seien dabei gewesen, der Fraktionschef Rolf Mützenich, Generalsekretär Matthias Miersch und Olaf Scholz. Erst danach sei das Video mit der Erklärung von Pistorius aufgenommen worden.
Die NZZ hätte diese Darstellung gern aus der SPD-Zentrale bestätigt bekommen. Doch trotz mehrfachen Gesprächsanfragen wollte sich niemand äussern. Keine Zeit, hiess es.
Am Donnerstagabend gibt Pistorius im ZDF ein Interview. Er wiederholt die Beweggründe seiner Entscheidung aus dem SPD-Video, wirkt bei sich und entspannt. Doch es gibt eine Aussage, die Einblick gibt, wie er sich in der Konkurrenz mit Scholz möglicherweise wirklich sieht. Es sei in diesen Zeiten, sagt er, aussen- wie innenpolitisch ein schlechtes Signal, dem amtierenden Kanzler die Kanzlerkandidatur zu nehmen und ihn damit zur «lame duck» zu machen.
Ganz der «treue Parteisoldat»
Man kann diese Formulierung so deuten, dass Pistorius sehr wohl die Kanzlerkandidatur im Blick hatte und bereit war zuzugreifen. Dies hatte er bis dahin häufig bestritten. Nun aber tritt er zurück und lässt Scholz den Vortritt. Ganz der «treue Parteisoldat», als den er sich, so sagt es ein SPD-Bundestagsabgeordneter, gern sehe.
Schlau sei das, sagt ein anderer aus der Fraktion. Scholz, meint er, sei nach der Wahl weg. Nach einer Niederlage gegen den Unionskandidaten Friedrich Merz werde er keine Rolle mehr spielen. Pistorius aber könne Vizekanzler in einer grossen Koalition mit CDU und CSU werden. Anders als Scholz gehe er aus der Debatte der vergangenen Tage gestärkt heraus.
Es gibt die Redewendung, manchmal einen Schritt zurückgehen zu müssen, um zwei Schritte vorwärtsgehen zu können. Hat sich Pistorius zurückgezogen, um für eine mögliche Zeit nach Scholz bereit zu sein?
Am Donnerstag hat der Verteidigungsminister gesagt, er stehe auch deshalb nicht zur Verfügung, weil er gesehen habe, wie schädlich die Debatte um die Kanzlerkandidatur für die SPD sei. In der Partei gibt es Leute, die diese Begründung für fragwürdig halten.
Verzicht zugunsten des Privatlebens?
Es gibt aber auch noch eine andere mögliche Erklärung für die Entscheidung von Pistorius. Die «Bild»-Zeitung schrieb am Samstag, dass persönliche Gründe eine Rolle gespielt haben könnten. «Ich bin 64 Jahre alt, ich habe vor zehn Jahren meine erste Frau an Krebs verloren und bin jetzt neu verheiratet», hatte Pistorius am Montag in dem Gespräch in Passau gesagt. «Ich kann mir im Alter vielleicht auch was anderes vorstellen. Diese Entscheidung möchte ich mir gern offenhalten.»
Verzichtete Pistorius also zugunsten seines Privatlebens auf eine mögliche Kanzlerkandidatur? Das Amt des Bundeskanzlers gilt in der deutschen Politik als das mit dem höchsten Anspruchs- und Stresslevel. Zeit für Privatleben gibt es kaum. Aber ist das als Chef des Verteidigungsressorts wirklich anders, in Kriegszeiten in Europa? Pistorius hat mehrfach gesagt, er würde sein Amt nach der Wahl gern weiterführen.
Am Montag soll Olaf Scholz vom SPD-Vorstand als Kanzlerkandidat nominiert werden. Am 30. November will die Partei eine «Wahlsiegkonferenz» in Berlin abhalten. Es wird erwartet, dass Scholz dort «seine Genossen» auf den Wahlkampf einschwört. Ob sie ihm, ob ihm überhaupt die Partei bis in den kleinsten Ortsverein hinein folgen wird, das dürfte sich aber erst am 11. Januar zeigen. Dann muss Scholz auf einem Bundesparteitag bestätigt werden.
Ab dann sind es noch sechs Wochen bis zum Wahltermin. Zurzeit sind die Umfragen für die SPD wie eingefroren. Sie liegt weit hinter CDU und CSU, auch hinter der AfD und gleichauf mit den Grünen. Was auf dem Parteitag geschieht, wenn es im Januar immer noch so ist, vermag derzeit niemand zu sagen.