Die ehemalige Bundeskanzlerin stellt in Berlin ihre Autobiografie vor – und viele erwarten woken Wohlfühl-Talk. Doch die Moderatorin Anne Will überrascht mit beinharten Fragen.
Es gibt in Deutschland kaum ein Debattenthema, das so geeignet ist, die politischen Fronten zu verwirren, wie der Ukraine-Krieg. Das zeigte sich in spektakulärer Form bei der Buchpremiere von Angela Merkels soeben erschienener Autobiografie «Freiheit».
Im Deutschen Theater in Berlin stellte die ehemalige Bundeskanzlerin ihr Werk am Dienstagabend vor freundlich gesinntem Publikum und handverlesenen Journalisten vor. Zu ihren Erinnerungen befragt wurde die frühere CDU-Vorsitzende von der TV-Journalistin Anne Will. In Wills öffentlichrechtlicher Sendung war Merkel des Öfteren zu Gast gewesen, wenn sie der Nation möglichst unbehelligt etwas hatte mitteilen wollen.
Dieser Versuchsaufbau liess also einen ganz bestimmten Gesprächsverlauf erwarten: Will als Stichwortgeberin, die sich mit Merkel über Klimaschutz, Frauenpolitik, Corona-Massnahmen und die deutsche «Willkommenskultur» weitgehend einig sein würde. Wohlfühl-Talk für das Justemilieu eben. So hätten es die Autorin und ihr Verlag sicher gern gehabt.
Vernichtendes Urteil über Merkels Ukraine-Politik
Und die Moderatorin begann denn auch ganz erwartungsgemäss mit einer Kaskade von Freundlichkeiten, nannte Merkels Buch «irrsinnig präzise» und «total fleissig». Die Zusammenhänge, die die Autorin wunderbar allgemeinverständlich schildere, seien «hochkomplex» und «superkompliziert».
Doch nach diesem netten Einstieg und vergleichsweise harmlosem Geplauder über Merkels DDR-Vergangenheit, über ihr Verhältnis zur Macht und über die Männer in der CDU ging Will ihre Interviewpartnerin plötzlich frontal an. Angeblich war das Gespräch am Vorabend vorbereitet worden; trotzdem wirkte Merkel in der zweiten Runde verblüfft über die Härte der Fragen, mit denen sie sich konfrontiert sah. Diese Härte schien sich bei Anne Will aus ihrem offenbar vernichtenden Urteil über Merkels Ukraine-Politik zu speisen.
Will fragte, ob es nicht so sei, dass Merkel in ihrem Buch zwar kleine, belanglose Fehler zugebe, zu den grossen Fehlern ihrer Amtszeit aber schweige. Merkel fand das nicht. Sprach dann aber weder über ihre in Deutschland umstrittene Flüchtlingspolitik noch über ihren möglichen Beitrag zum Erstarken der Rechtspartei Alternative für Deutschland noch über ihr – im Rückblick betrachtet – problematisches Corona-Regime. Die Ex-Bundeskanzlerin versuchte vielmehr, sich ausgerechnet mit einem Verweis auf die Klimapolitik aus der Affäre zu ziehen: Da habe sie mit demokratischen Mitteln nicht genug durchsetzen können.
Nicht enden wollende Nachfragen
Doch Will wollte über das Klima an dieser Stelle nichts hören: Ihr ging es um Merkels Verhältnis zu Russland und zum russischen Präsidenten Putin. Darum, ob es richtig gewesen sei, dass sich Merkel 2008 gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine wandte und ihn massgeblich mit verhinderte. Es ging Will um die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas; um die Pipeline Nord Stream 2, an deren Bau die Kanzlerin auch in Kenntnis der russischen Aggression gegen die Ukraine festhielt.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe inzwischen eingeräumt, dass Nord Stream 2 ein Fehler gewesen sei, sagte Will: «Was hätte es Sie gekostet, das auch zuzugeben?» Merkel antwortete darauf gewunden, dass sie dann ja etwas zugeben würde, was sie, sich «in die Zeit von damals zurückversetzend, nicht glauben würde».
Will fragte: «Haben Sie die Ukraine 2008 im Stich gelassen? Das Land in existenzielle Not gebracht?» Und habe Merkel nicht «gefühllos» auf die Bitte des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski reagiert, sich am Ort des Massakers von Butscha einen Eindruck vom Wüten der Russen zu verschaffen?
Merkel, die mit den nicht enden wollenden harten Nachfragen immer weniger umgehen konnte, antwortete zunehmend gereizt und weniger «präzise», als Will zu Anfang noch gelobt hatte. Sie deutete an, dass mit der Pandemie auch der internationale Gesprächsfaden, der Gesprächsfaden zu Putin abgerissen sei, andernfalls wäre ja – vielleicht, vielleicht – ein anderer Gang der Geschichte denkbar gewesen.
Eine Trennung in aller Höflichkeit?
«Es passt gar nicht, dass Sie in Was-wäre-wenn-Kategorien schreiben oder reden», sagte Will nun: «Ist das eine Ausflucht?» Merkel sagte, Putin dürfe den Krieg nicht gewinnen. Sie sagte, die Ukraine werde den Krieg nicht verlieren. Sie sagte, gegen den Nato-Beitritt sei sie 2008 aus «Sorge um die Ukraine» gewesen, weil Putin das nicht tatenlos hingenommen hätte, man die Ukraine als Beitrittskandidaten aber nicht habe schützen können. Sie sagte, dass Finnland (das freilich in der jüngeren Vergangenheit nie von Russland angegriffen wurde) lange Zeit gar keinen Nato-Beitritt gewollt habe. Sie sagte, dass es für sie nicht infrage gekommen sei, dass «wir Truppen schicken» (was freilich nie zur Debatte stand). Kein Zweifel: Merkel schwamm.
«Auch im Rückblick sehen Sie keinen Fehler?», fragte Will. Nein, sagte Merkel. Dafür gab es vom freundlichen Publikum Applaus. Ob es denn für das Einräumen von Fehlern eine Art Gütesiegel gebe, fragte Merkel, und fügte in Richtung Will hinzu: «Ich nehme ja zur Kenntnis, dass Sie der Argumentation nicht folgen können.»
Dass Will und Merkel es schafften, sich nach diesem Austausch in aller Höflichkeit zu trennen, sprach für beider Selbstbeherrschung. Ob dieser Auftritt Merkels ihrem Nachruhm dient, muss die Geschichte zeigen.