Nach den überraschenden Aussagen des ukrainischen Präsidenten nimmt die Diskussion um die «Zeit danach» Fahrt auf. Frankreich und Grossbritannien könnte eine besondere Rolle zukommen.
In der Ukraine verändert sich die Lage gerade dramatisch schnell: Im Donbass rückt die russische Armee konstant vor, gleichzeitig greift sie die zivile Infrastruktur auch im Westen des Landes unaufhörlich an. Für die Bevölkerung und die Truppen der Ukraine könnte der bevorstehende Winter zum schwersten seit der Grossinvasion im Februar 2022 werden.
Vor diesem Hintergrund – und weil unklar ist, wie sich die amerikanische Unterstützung unter der neuen Trump-Administration entwickelt – wird derzeit häufiger über die «Zeit danach» diskutiert, als dies noch vor wenigen Wochen der Fall war. Könnten gar die Waffen bald schon schweigen?
Präsident Wolodimir Selenski hat die Diskussionen übers Wochenende selbst angeheizt, als er in einem Interview mit Sky News erstmals sagte, dass die Rückeroberung des gesamten ukrainischen Territoriums keine zwingende Voraussetzung für einen Waffenstillstand darstelle. Die heisse Phase des Krieges könne beendet werden, wenn alle Gebiete, die sich unter ukrainischer Kontrolle befänden, mit sofortiger Wirkung unter den Nato-Schutzschirm gestellt würden, so Selenski.
«Schritt für Schritt»
Mit Spannung blickten Beobachter deshalb nach Brüssel, wo sich am Dienstag und Mittwoch die Aussenminister der 32 Nato-Staaten versammelten. Würden sie der Ukraine die sehnlichst erwünschten Sicherheitsgarantien geben oder gar konkrete Schritte hin zur Mitgliedschaft aufzeigen?
Die kurze Antwort lautet: Nein – was aber nicht heisst, dass im Hintergrund keine entsprechenden Gespräche im Gang sind. Nato-Generalsekretär Mark Rutte war jedenfalls nicht zu beneiden, als er an den beiden Tagen bei verschiedenen Gelegenheiten die Position des Verteidigungsbündnisses darzulegen hatte. Seine Formulierungen unterschieden sich leicht voneinander, inhaltlich aber sagte der Niederländer immer nur dasselbe.
Die meistverwendete Floskel lautete «step by step». Will heissen: Wie ein Waffenstillstand oder gar ein Friedensabkommen aussehen könnte, ist zurzeit Zukunftsmusik. Zuerst müsse die Ukraine in eine Position der Stärke (zurück-)gebracht werden, um überhaupt Verhandlungen starten zu können. Und das gehe nur, indem man dem Land mehr Waffen liefere, um den russischen Ansturm abzuwehren und idealerweise in die Gegenoffensive gehen zu können, so Rutte. Er betonte erneut, dass der Weg der Ukraine in die Nato «unwiderruflich» sei – konkreter wurde er aber auch diesmal nicht.
Es braucht mehr Geld
Dass die Nato-Mitgliedsstaaten nun im Durchschnitt knapp über zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung einplanten, sei erfreulich, aber nicht genug, sagte Rutte. «Wir müssen mehr ausgeben», wiederholte er verschiedentlich – was angesichts der finanziellen Lage zahlreicher Länder unausweichlich zu harten politischen Grabenkämpfen führen wird.
In Bezug auf mögliche Sicherheitsgarantien sind einzelne Nato-Mitgliedsstaaten allerdings schon einen Schritt weiter. Für Aufsehen sorgte jüngst ein Artikel in «Le Monde», wonach die beiden Atommächte Frankreich und Grossbritannien darüber sprechen, eine «Friedenstruppe» anzuführen, die eine entmilitarisierte Pufferzone zu überwachen hätte. Entsprechende Diskussionen liefen im Hintergrund auf militärischer Ebene. Das Thema, so die Zeitung, sei auch anlässlich des Besuchs des britischen Premierministers Keir Starmer bei Präsident Emmanuel Macron Mitte November besprochen worden.
Scholz korrigiert Baerbock
Für Wirbel sorgte auch eine Aussage der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock. Auf die Frage, welche Rolle ihr Land im Falle einer internationalen Truppenpräsenz spielen könnte, sagte sie am Mittwoch, dass Deutschland alles unterstütze, was «dem Frieden in der Zukunft» diene. Nur Stunden später widersprach Bundeskanzler Olaf Scholz allerdings der Auslegung von Baerbocks Worten, dass Deutschland Soldaten in die Ukraine schicken könnte. «Ich halte das in der gegenwärtigen Situation für ausgeschlossen», sagte er im Bundestag.
Offener zeigte sich derweil die neue EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas: «Ich denke, wir sollten wirklich nichts ausschliessen», sagte sie gemäss Agenturberichten am Sonntag in Kiew. Die Estin war zusammen mit dem Ratspräsidenten Antonio Costa und der Erweiterungskommissarin Marta Kos gleich an ihrem ersten Arbeitstag in die ukrainische Hauptstadt gereist. Statt vager Visionen und Solidaritätsbekundungen hätte man dort lieber handfeste Zusicherungen bekommen – doch diese wollen und können die westlichen Partnerländer noch nicht geben.








