Frankreichs Präsident denkt nicht an einen Rücktritt. Das hat er am Donnerstagabend in einer Rede an die Nation klargestellt. Wer Barnier als Premierminister folgen wird, soll bald bekanntgegeben werden. Und die Sanierung der Staatsfinanzen? Muss wohl warten.
Am Tag nach dem Sturz der Regierung von Michel Barnier passieren in Frankreich bizarre Dinge. In Paris setzt sich am Nachmittag ein grosser Demonstrationszug in Bewegung. Die Männer und Frauen mit den bunten Fahnen marschieren zum französischen Wirtschafts- und Finanzministerium, einem kolossalen Bau im Osten der Stadt, direkt an der Seine. Es sind Lehrer, Spitalmitarbeiter und andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die am Donnerstag aus Protest ihre Arbeit niedergelegt haben.
Protest gegen wen? «Auch wenn diese Regierung gestürzt ist, erwarten wir von der nächsten keine Verbesserungen», sagt ein Teilnehmer, «wir bleiben mobilisiert!» Zu dem Event aufgerufen hatten mehrere Gewerkschaften, um gegen die Sozialreformen der Barnier-Regierung zu protestieren. Diese wollte drei unbezahlte Karenztage bei krankheitsbedingter Abwesenheit einführen und bei längerer Absenz die Lohnfortzahlung kürzen.
Vorerst geschäftsführende Regierung
Dass diese vergleichsweise zumutbaren Reformpläne längst wieder obsolet sind, weil Michel Barnier und sein Kabinett am Mittwochabend durch einen Misstrauensantrag der vereinten Opposition von links und rechts zum Rücktritt gezwungen wurden, tangiert die Demonstranten nicht. Sie wollten, sagen sie, auch ein Signal an die künftige Regierung senden.
Dabei ist derzeit völlig unklar, wann diese Regierung kommt und wer sie führen soll. Der französische Präsident Emmanuel Macron empfing Barnier am Donnerstag und liess sich von dem Konservativen, den er erst im September zum Premierminister ernannt hatte, über die politische Lage unterrichten. Wenig später teilte der Élysée-Palast mit, dass der Präsident der Republik den Rücktritt Barniers akzeptiert habe. Bis zur Bildung einer neuen Regierung würden die Ministerinnen und Minister aber geschäftsführend im Amt bleiben.
Am Abend wandte sich Macron dann in einer Fernsehansprache an die Franzosen. Er wolle in den kommenden Tagen einen neuen Premierminister ernennen, erklärte er. Aber auch zu seiner eigenen Zukunft äusserte er sich: «Das Mandat, das Sie mir demokratisch anvertraut haben, ist auf fünf Jahre angelegt, und ich werde es bis zu seinem Ende voll und ganz ausüben.»
Diese Klarstellung war Macron offenbar wichtig gewesen, denn mehrere französische Politiker hatten nach dem Sturz der Barnier-Regierung auch den Präsidenten zum Rücktritt aufgefordert. Allen voran Jean-Luc Mélenchon, der Chef der linksradikalen Partei La France insoumise. Aber auch ein Politiker aus Macrons eigener Partei. Und nicht zuletzt Marine Le Pen, die Chefin der Rechtsnationalisten, die allerdings etwas gnädiger meinte, der Präsident müsse nicht sofort demissionieren, aber die Präsidentschaftswahl deutlich vorziehen.
Macron kritisierte seine Gegner scharf für ihr «antirepublikanisches Verhalten». Die Regierung sei gefallen, «weil Rechtsextreme und Linksextreme sich zu einer antirepublikanischen Front vereinigt haben», sagte er. Und dann verteidigte er noch einmal seine Entscheidung von vor sechs Monaten, das Parlament aufzulösen, die für ihn nach den Ergebnissen der Europawahl nur konsequent gewesen sei. Viel mehr (ausser einem Appell an die Franzosen, sich angesichts der bevorstehenden Wiedereröffnung der Notre-Dame auf das Gute und Schöne zu besinnen) erfuhren seine Zuschauer an diesem Abend nicht.
Mit dem erfolgreichen Misstrauensvotum driftet Frankreich auch finanziell ins Ungewisse. Das Land ist hoch verschuldet und kann seinen laufenden Haushalt nur gegen hohe Zinssätze am Markt finanzieren. Die Gesetzesentwürfe Barniers, mit deren Hilfe zumindest 60 Milliarden Euro eingespart werden sollten, um das Defizit zu senken, sind nun aber Geschichte. Und der geschäftsführenden Regierung sind die Hände gebunden. Sie darf keine neuen Gesetze oder Initiativen anstossen, sie soll sich lediglich um das Tagesgeschäft kümmern.
In Paris wurde deswegen schon vor dem Sturz der Barnier-Regierung über ein Sondergesetz diskutiert, mit dem der laufende Haushalt über das Jahresende hinaus fortgeführt werden kann. Die Ausgaben und Einnahmen des Haushaltes von 2024 würden dann auch für 2025 gelten. Zugleich würde eine Reihe von Haushaltsposten automatisch ansteigen, wie etwa die Bezahlung der Beamten. Laurent Saint-Martin, der jetzt nur noch geschäftsführende Haushaltsminister, wies darauf hin, dass die Franzosen im kommenden Jahr wohl auch mehr Einkommenssteuern zahlen müssten, weil die Regierung gezwungen wäre, das hohe Haushaltsdefizit und die steigende Staatsverschuldung auszugleichen.
Kein Shutdown wie in den USA
Ein Shutdown, also ein Stillstand der Regierungsgeschäfte, wie man ihn aus den USA kennt, wird mit dem Sondergesetz jedenfalls verhindert. Marine Le Pen und die Parteien vom linken Lager haben bereits signalisiert, ein solches Gesetz zu unterstützen. Doch selbst wenn es dafür keine Mehrheit gäbe, sind amerikanische Verhältnisse in Frankreich undenkbar. Denn im äussersten Fall könnte Macron immer noch auf den berüchtigten Artikel 16 der Verfassung zurückgreifen und das Land vorübergehend ganz allein, per Dekret, regieren.
Während viele in Frankreich das Fehlen eines ordentlichen Haushalts für 2025 fast schulterzuckend hinzunehmen scheinen, ist man im Ausland besorgt. Denn auch geplante Investitionen in die Streitkräfte fallen nicht in den Kompetenzbereich einer geschäftsführenden Regierung. Sébastien Lecornu, der Verteidigungsminister, warnte bereits vor Einbussen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro, was dann auch die Waffenlieferungen an die Ukraine beträfe.