In atemberaubender Geschwindigkeit haben die islamistischen Rebellen die syrische Hauptstadt erobert. Asad ist offenbar geflohen – auf den Strassen Syriens herrschen Freude und Ungewissheit. Für die Region bedeutet das eine Zeitenwende.
Um kurz vor sieben Uhr morgens Ortszeit war es so weit: Die syrische Hauptstadt Damaskus ist in die Hände der Rebellenallianz unter der Führung der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) gefallen. Das Regime von Bashar al-Asad ist gestürzt. Dies verkündeten am Sonntag zunächst die Milizionäre selbst und kurz darauf die syrische Armee sowie Syriens Ministerpräsident.
In kürzester Zeit ist das Regime von Bashar al-Asad kollabiert, der das Land seit einem Vierteljahrhundert unterjocht hielt. Der Damaszener Diktator hat derweil die Flucht ergriffen: Asad hat laut syrischen Offizieren am frühen Sonntagmorgen die Hauptstadt in einem Flugzeug verlassen, wie verschiedene Nachrichtenagenturen berichten. Wohin sich Syriens Langzeitherrscher abgesetzt hat, ist nicht bekannt.
Das Ende einer Ära
Was Ende November als begrenzte Offensive aus dem von Rebellen kontrollierten Nordwesten Syriens begann, hat sich in kürzester Zeit in einen Volksaufstand gegen Asad entwickelt. In wenigen Tagen nahmen die HTS-Milizionäre zunächst die zweitgrösste Stadt Aleppo ein, kurz darauf fiel Hama und schliesslich marschierten sie auf Damaskus.
Nicht nur der HTS, sondern auch kurdische Milizen sowie lokale Rebellen aus dem Süden eroberten Gebiete von der syrischen Armee, deren Soldaten in den meisten Fällen flohen oder sich kampflos ergaben.
Der Vormarsch markiert eine neue Ära: In atemberaubender Geschwindigkeit haben die Rebellen die Herrschaft der Familie Asad gestürzt, die das Land seit 54 Jahren unterdrückt hat. Bashars Vater Hafiz al-Asad hatte sich im Jahr 1970 in Damaskus an die Macht geputscht und Syrien ebenfalls jahrzehntelang mit eiserner Faust regiert.
Nun haben die Rebellen geschafft, was ihnen im Jahr 2011 nicht gelungen ist. Als damals der Arabische Frühling Syrien erreichte, antwortete Asad auf die Forderungen nach Reformen mit unfassbarer Gewalt und setzte in den Jahren darauf auch Giftgas gegen seine eigene Bevölkerung ein. Das Resultat war ein blutiger Bürgerkrieg, in dessen Folge Hunderttausende Menschen vertrieben wurde und unter anderem der «Islamische Staat» die Macht in einigen Teilen des Landes übernahm.
Mit ausländischer Hilfe konnte sich Asad allerdings wieder fangen: Russland, Iran und der libanesische Hizbullah gaben Asad Schützenhilfe im Krieg gegen das eigene Volk. Doch die Schutzmächte des Autokraten haben nicht mehr die Kraft, die Schreckensherrschaft Asads zu stützen. Hielt sich bis auf wenige Luftangriffe im Nordwesten Syriens aus den Kämpfen heraus. Iran hatte zuletzt einige Militärberater geschickt, die aber laut der «New York Times» schon am Freitag wieder abgezogen wurden. Für beide Mächte ist der Verlust Syriens ein schwerer Schlag.
Zeitenwende für den Nahen Osten
Vor allem Teheran musste in den vergangenen Monaten mit ansehen, wie sein mit viel Aufwand errichtetes Milizensystem fast komplett zusammenfiel. Nachdem Israel im Herbst erst den Hizbullah in Libanon sturmreif geschossen hatte, haben die Iraner jetzt mit dem Asad-Regime auch noch ihren ältesten Verbündeten in der arabischen Welt verloren. Von der einstigen pro-iranischen Achse, die von Teheran bis Beirut reichte, ist kaum mehr etwas übrig. Für den Nahen Osten bedeutet das eine Zeitenwende.
Sowohl Iran als auch Russland versuchten bis kurz vor Schluss, noch eine diplomatische Lösung für die Syrien-Krise zu finden. Am Samstag waren die Aussenminister beider Länder deshalb in der katarischen Hauptstadt Doha mit ihrem Amtskollegen aus der Türkei zusammengekommen. Viel neues sprang dabei zumindest vordergründig nicht heraus – bis auf ein paar vage Deklarationen zur Souveränität Syriens.
Manche Beobachter vermuten daher, dass Teheran und Moskau ihren syrischen Klienten möglicherweise schon zuvor fallen gelassen hatten. Stunden vor Asads Flucht sagte der russische Aussenminister Sergei Lawrow bereits, Russland verlange ein Ende der Kämpfe in Syrien und einen Dialog zwischen der Regierung und der Opposition. Die Iraner schienen sich ebenfalls mit der Lage abgefunden zu haben. «Am Ende war das Engagement in Syrien doch auch eine gewaltige Ressourcenverschwendung», sagt ein ehemaliger iranischer Diplomat am Rande einer Politik-Konferenz in Doha gegenüber der NZZ.
Im Rest der arabischen Welt hat der rasante Fall Asads vor allem Besorgnis ausgelöst. Man wolle bloss kein weiteres Chaos, wiederholen etwa Vertreter vom Golf in privaten Gesprächen. Auch deshalb hatten sich die Golfstaaten dem einst verhassten Asad zuletzt wieder angenähert und versucht, ihn mit Versprechen und Hilfen gefügig zu machen.
Jetzt blicken sie skeptisch in die Zukunft. Gerade in Abu Dhabi oder Riad gelten die pro-türkischen Islamisten der HTS alles andere als vertrauenswürdige Partner. Allerdings haben offenbar weder Saudiarabien, noch die Vereinigten Arabischen Emirate oder eine andere Macht in der Region den rasanten Fall Asads kommen sehen. Wie alle wurden auch sie überrollt vom Wind der Geschichte.
Wie werden die Islamisten von HTS regieren?
In Syrien herrscht derweil Ekstase gemischt mit Ungewissheit. Anas al-Rawi ist ein Oppositioneller der ersten Stunde, der schon 2011 gegen Asad auf die Strasse ging. Für die Freude über den Sturz des Regimes finde er keine Worte, erzählt der 36-Jährige in einem Videotelefonat am späten Samstagabend. Der Mann mit dem langen schwarzen Vollbart lächelt immer wieder, während er an seiner Shisha zieht. «Aber ich habe kein komplettes Vertrauen in die Islamisten der HTS.»
Die Rebellen der HTS hatten sich in den letzten Jahren einen moderateren Anstrich verliehen. Ihr Anführer, Mohammed al-Julani, hat seinen Bart gestutzt und zeichnet seine Dekrete nun mit seinem zivilen Namen Ahmed al-Sharaa. Am Sonntagmorgen verbot er seinen Kämpfern, die Institutionen des Staates in Damaskus gewaltsam einzunehmen. Diese sollten vom bisherigen Ministerpräsidenten in einem geordneten Prozess übergeben werden. Auch Freudenschüsse in die Luft sind offenbar verboten.
Der Oppositionelle Anas al-Rawi befindet sich momentan im Kernland der Rebellen im Nordwesten, doch gleich nach der Befreiung der beiden Städte Aleppo und Hamas war er in die Städte gefahren. Seine Sorge habe sich grösstenteils verflüchtigt, denn an beiden Orten habe er gesehen, dass HTS seine Versprechen zunächst eingehalten habe.
Die islamistische Miliz habe die Christen und andere Minderheiten in den eroberten Städten geschützt. «Und das sage ich als jemand, der 2012 gegen die Nusra-Front demonstriert hat», betont der Mann, der heute ein zivilgesellschaftliches Zentrum im Nordwesten des Landes leitet. Die ehemals mit der Kaida verbündete HTS-Miliz ging aus der islamistischen Nusra-Front hervor.
Stunde Null in Syrien
In Syrien hat am Sonntagmorgen die Stunde Null geschlagen: Es ist völlig offen, wer auf Asad folgt und ob das Land nicht von neuem in blutigen Kämpfen versinkt, die entlang konfessionellen Grenzen ausgetragen werden. Klar ist beispielsweise, dass die kleine Minderheit der Alawiten, aus der Asad stammt, über ein Ende der Herrschaft ihres Schutzherren nicht glücklich sein wird.
Doch auch im alawitischen Kernland, etwa in der Hafenstadt Latakia, brach am Sonntag vereinzelt Jubel auf den Strassen aus. Dass Damaskus ohne Blutvergiessen fiel, ist ebenfalls ein Hoffnungsschimmer: ein langer Kampf um die Hauptstadt hätte den Bürgerkrieg neu entfachen können. «Ich hoffe auf eine neue Verfassung und freie Wahlen», sagt Anas al-Rawi. Noch fühle sich das allerdings sehr weit entfernt an und die Begeisterung überschatte alles. «Ich hätte nie gedacht, dass ich die Stunde Null noch erleben darf.»







