Nach jahrelangem Bürgerkrieg fällt das Regime von Bashar al-Asad in weniger als zwei Wochen. Wie schafften es die Rebellen aus der Provinz Idlib, derart schnell in die Hauptstadt vorzupreschen?
Als islamistische Rebellen aus der Provinz Idlib am 27. November eine Militäroffensive in Syriens Nordwesten starten, ahnt noch niemand, dass nur 12 Tage später das Regime von Bashar al-Asad fallen würde. Die Welt reibt sich die Augen – was ist passiert? Wie konnten die Rebellen so schnell vorstossen?
Ursprünglich sei nur eine begrenzte Militäroffensive geplant gewesen, sagen mehrere Syrien-Experten. Die in Idlib herrschenden Milizionäre der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) wollen damit den Luft-, Artillerie- und Drohnenangriffen durch das Asad-Regime ein Ende setzen, die in den letzten Wochen zugenommen haben. Die HTS nennt ihre Offensive «Abwehr der Aggression».
Doch zur allgemeinen Überraschung rücken die Rebellen enorm rasch vor. Schon am zweiten Tag ihrer Offensive erobern sie Dutzende Dörfer und gelangen bis auf wenige Kilometer an die Stadtgrenze der Handelsmetropole Aleppo heran. Die begrenzte Operation wird zum grossflächigen Angriff. Dann geht es schnell.
Der Vorstoss nach Aleppo
Obwohl die syrische Armee von russischen Kampfflugzeugen sowie proiranischen und schiitischen Milizen unterstützt wird, sind die HTS-Rebellen erdrückend überlegen. Offensichtlich haben sie sich seit Monaten auf ihre Offensive vorbereitet. Die Allianz aus mehreren Milizen tritt unter geeintem Kommando auf. Sie geht taktisch und operativ geschickt vor, ist gut ausgerüstet und ausgebildet.
Laut dem Syrien-Experten Charles Lister verfügt die HTS über Eliteeinheiten, die den Kampf in der Nacht beherrschen – eine Fähigkeit, die nur wenige Armeen haben. Auch der Einsatz von Drohnen verschafft den Rebellen Vorteile. Mit den unbemannten Fluggeräten bekämpfen sie feindliche Scharfschützen, Artilleriestellungen, Führungseinrichtungen oder sich zurückziehende Truppen. Offenbar stammen zumindest manche der Drohnen aus Eigenproduktion in Idlib. Noch immer ist unklar, inwiefern die HTS auch vom Ausland unterstützt wurde.
Ein taktischer Erfolg gelingt den Rebellen am 28. November: Indem sie die Autobahn M5 nördlich der Stadt Sarakeb einnehmen, kappen sie die wichtigste Verbindungsstrasse zwischen Aleppo und der Hauptstadt Damaskus.
Als die Milizionäre darauf in die ersten Vororte der Stadt eindringen, schliesst sich ein weiterer Akteur dem Kampf an. Einheiten der protürkischen Syrischen Nationalen Armee lancieren eine eigene Offensive namens «Dämmerung der Freiheit». Auch die SNA stösst nun von Norden her auf Aleppo vor, geht dabei aber auch gegen kurdische Gebiete nördlich der Stadt vor. Dort kämpft sie gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), ein kurdisch-arabisches Milizenbündnis.
Noch am selben Tag, dem 30. November, fällt Aleppo, die zweitgrösste Stadt Syriens. Inzwischen bombardieren sowohl die syrische als auch die russische Luftwaffe Dutzende Ziele in den Provinzen Idlib und Aleppo.
Die Schlacht um Hama
Gleichzeitig mit der Einnahme Aleppos stossen die Rebellen weiter in Richtung Hama vor. Vor der viertgrössten Stadt Syriens treffen sie das erste Mal auf nennenswerten Widerstand durch Regime-Truppen. Diese haben eine Gegenoffensive angekündigt und können sogar einige Dörfer nördlich von Hama zurückerobern – jedoch nur für kurze Zeit.
Aufgrund der Gegenwehr passen die Rebellen unter dem Kommando der HTS ihre Taktik bei Hama an. Sie beginnen damit, die Stadt von Nordwesten und Nordosten her einzukesseln, bis den Asad-Truppen nur noch der Rückzug nach Homs bleibt. Nach intensiven Kämpfen fällt Hama am 5. Dezember.
Zahlreiche Ortschaften ergeben sich indes widerstandslos. Denn die Rebellen und ihr Anführer Mohammed al-Julani verfolgen eine gezielte Kommunikationsstrategie. Sie schicken jeweils Vermittler vor, die Soldaten des Regimes und lokale Milizen auffordern, sich kampflos zu ergeben oder sich ihnen anzuschliessen. Den Mitgliedern der zahlreichen Konfessionen Syriens versprechen die Rebellen Sicherheit und die freie Ausübung ihres Glaubens. Bilder aus anderen Städten, etwa von feiernden Christen in Aleppo, scheinen die Glaubwürdigkeit der Versprechen der HTS zu untermauern. Bis jetzt scheinen die Islamisten ihrem betont moderaten Kurs treu zu bleiben.
Mit der Eroberung von Hama richten die Rebellen ihren Blick auf die nächste Grossstadt: Homs. Sie verbindet die Hauptstadt Damaskus mit den syrischen Mittelmeergebieten. Entsprechend will das Asad-Regime die Einnahme von Homs unbedingt verhindern. Doch nicht einmal die Zerstörung einer wichtigen Brücke auf dem Weg nach Homs, die laut Berichten achtmal von syrischen und russischen Kampfjets beschossen wurde, kann die Rebellen aufhalten.
Homs fällt – und der Süden erhebt sich
Schon seit Beginn der Offensive war es in allen Landesteilen zu sporadischen Protesten gegen das Regime gekommen. Doch als immer mehr Städte an die Rebellen fallen, wird aus den Protesten ein Aufstand. Im Süden greifen verschiedene lokale Milizen, Oppositionelle und Angehörige der drusischen Minderheit zu den Waffen und schliessen sich der Rebellion an.
Die Truppen des Asad-Regimes kollabieren derweil immer weiter. Vielerorts lassen die Soldaten des Regimes alles stehen und liegen, fliehen von ihren Posten oder ergeben sich. Ihre Waffen fallen in die Hände der Rebellen – darunter auch Panzer und sogar Kampfflugzeuge.
Auch im Süden legen Asads Soldaten zu Tausenden die Waffen nieder. Wo sie können, ziehen sie ihre Uniformen aus oder setzen sich über die Grenze ab – etwa in den Irak. Innerhalb eines Tages sind weite Teile des Südens befreit, darunter die Stadt Daraa, wo 2011 die Revolution ihren Anfang genommen hatte.
Gleichzeitig greifen weitere Rebellen aus der Wüste östlich von Damaskus wichtige Verbindungsstrassen an. Im Norden fällt am Samstagabend auch Homs. Die Hauptstadt Damaskus ist nun mit Angriffen aus drei Richtungen konfrontiert.
Damaskus fällt
Das Regime spricht am Samstagnachmittag noch von einem unüberwindbaren Sicherheitsring um Damaskus. Faktisch hat es der Rebellion zu diesem Zeitpunkt aber nichts mehr entgegenzusetzen.
Den bevorstehenden Sturz Asads ahnend, gehen nun die Bürger in den Vororten von Damaskus auf die Strasse. Sie reissen Symbole der Herrscherfamilie nieder. Auch das Regime sieht sein Ende kommen. Asad setzt sich in letzter Minute in einem Flugzeug nach Moskau ab. Die Regierung und der Sicherheitsapparat vollziehen eine Kehrtwende: Die Rebellen berichten von Absprachen mit führenden Köpfen des Apparates. Noch in der Nacht fällt Damaskus ohne grossen Widerstand.
In den frühen Morgenstunden des 8. Dezembers verkünden die Rebellen im syrischen Staatsfernsehen den Fall von Bashar al-Asad. Die 54 Jahre dauernde Schreckensherrschaft der Asads ist zu Ende. Am nächsten Tag eskortieren die Rebellen den Ministerpräsidenten aus seinem Büro, was den Beginn des Machtwechsels symbolisiert.







