Die Amerikanerin startet am Wochenende in Beaver Creek als Vorfahrerin, fast sechs Jahre nach ihrem Rücktritt. Nun hat sie ein teilweise künstliches Kniegelenk. Der Chefarzt von Swiss Ski sagt, was die Gefahren und die Chancen dieses Comebacks sind.
Als Lindsey Vonn im Februar 2019 zurücktrat, sagte sie, ihr Körper sei «broken beyond repair»: so kaputt, dass er nicht mehr zu reparieren sei. «Er schreit mir zu, ich solle stoppen. Es ist an der Zeit für mich, zuzuhören.»
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Vonn 82 Weltcup-Rennen gewonnen, womit sie auf Platz 3 der Geschichte steht, hinter Mikaela Shiffrin und Ingemar Stenmark. In ihrem letzten Rennen errang sie Abfahrts-Bronze an den Ski-WM in Åre.
Nun ist Vonn vierzig Jahre alt und kehrt mit einem teilweise künstlichen Kniegelenk in den Skizirkus zurück. Am Wochenende startet sie bei den Speed-Rennen in Beaver Creek als Vorfahrerin. Das hat vor der Amerikanerin noch niemand gewagt. Der Swiss-Ski-Chefarzt Walter O. Frey von der Klinik Hirslanden sagt dazu: «Es muss schon sehr vieles sehr gut gelaufen sein, damit das möglich ist.»
Was ist passiert, dass Vonn plötzlich schmerzfrei ist und auf die Idee eines solchen Comebacks gekommen ist? Und was bedeutet das, eine Halbprothese im Knie zu haben?
Vonn erlitt in ihrer Karriere zahlreiche Knieverletzungen, darunter Kreuzbandrisse an beiden Beinen. In ihrem rechten Knie leide sie in allen drei Gelenkskompartimenten, also Teilgelenken, an einem schwerwiegenden Verschleiss, schreibt sie auf Instagram. Das Kompartiment an ihrer Knieaussenseite bereitete Vonn so grosse Schmerzen, dass sie ihr Leben, in dem Bewegung eine grosse Rolle spielt, nicht mehr bewältigen konnte. Im Juli 2023 liess sie sich operieren, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Doch der Erfolg war bescheiden. Nach langen Gesprächen mit verschiedenen Ärzten entschied sie sich für eine Teilprothese, die sie sich im April 2024 einsetzen liess.
So funktioniert eine Teilprothese im Knie
Der Oberschenkelknochen endet unten in zwei Rollen, die auf dem Schienbeinplateau aufliegen – das ist, vereinfacht gesagt, das Kniegelenk. Bei Vonn schliff ein Roboter zuerst drei Millimeter des Knochens an der Aussenseite des Knies ab. Dann stülpte der Arzt eine Titankappe auf die äussere Rolle des Oberschenkelknochens. Auf dem Schienbeinplateau befestigte er eine Titanplatte, auf die er noch ein Stück Kunststoff legte. Die Stifte der Titanteile wurden in den Zement gepresst, der zwischen den Knochen und das Titan geschmiert wird.
So genau weiss man das, weil Vonn jeden Schritt mit der Öffentlichkeit teilte und sogar Videos aus dem Operationssaal zeigte.
Weshalb nur eine Teilprothese? Walter O. Frey sagt: «Im Alter von vierzig Jahren will man eigentlich keine Prothese machen, das ist eine Ausnahme.» Deshalb könne man sich für die Miniaturvariante entscheiden und sehen, wie lange sie halte. Die meisten Patientinnen und Patienten erhalten dennoch irgendwann eine Vollprothese – doch oft funktioniert die Teilprothese viele Jahre oder sogar Jahrzehnte gut.
Für die Comeback-Pläne von Vonn macht der viel kleinere Eingriff einen grossen Unterschied. Frey sagt: «Eine Vollprothese mindert oft das Feingefühl im Knie. Dafür öffnet man das Gelenk weit, was viele Narben hinterlässt und Nerven durchtrennt. Die Sensoren, die die Feinmotorik steuern, senden dann nicht mehr oder sind im Narbengewebe kaputtgegangen.» Mit einem teilweise natürlichen Knie, wie Vonn es nun weiterhin hat, bleibt viel mehr erhalten.
Die Teilprothese verändert die anderen Strukturen des Knies nicht. Vonn lebt mit dem gleichen Risiko wie andere Fahrerinnen, sich am Knie zu verletzen, etwa Bänder zu reissen. In einem Video erklärt Vonns Arzt aber, er sei sehr zufrieden mit der Stabilität ihres Kreuzbands. Ausserdem könne Vonn das Knie so gut strecken wie seit zehn Jahren nicht mehr.
Eine Stelle ist allerdings durchaus heikel. Frey sagt: «Die Schwierigkeit ist der Übergang zwischen einem toten Gewebe wie dem Metall und dem lebendigen wie dem Knochen, der sich auf- und abbaut, wachsen und absterben kann.» Übergänge sind auch in einem gesunden Körper heikel, etwa von Sehne zu Muskel. Aber bei der Prothese ist entscheidend, wie gut der Knochen das fremde Teil akzeptiert und mit ihm verwächst; der Zement unterstützt diesen Prozess. Da der Knochen lebt, ist das ein fortdauernder Prozess – Probleme können auch erst Jahre später entstehen.
Finden die Zellen irgendwann, das künstliche Teil gehöre nicht mehr zu ihnen, kann sich das Konstrukt lockern. So entsteht ein Zwischenraum, der manchmal auf dem Röntgenbild sichtbar ist, vor allem aber weh tut. In den meisten Fällen bleibe dann nur die Option einer Vollprothese, sagt Frey. Zudem könne das künstliche Teilgelenk die Arthrose im gesunden Bereich vorantreiben.
Viel Bewegung ist für ein künstliches Gelenk besser als keine
Beschleunigen die Kräfte, die bei einer Weltcup-Abfahrt auf die Fahrerin wirken, ein solches Problem? Das lässt sich nicht abschätzen, da das vor Vonn noch niemand versucht hat. Auch bei einem normal aktiven Menschen verhält sich ein neues Knie individuell. Nicht alles lässt sich beeinflussen – manche Menschen können mit einem künstlichen Gelenk nie wieder auf die Skipiste.
Doch Belastung und Bewegung sind für ein künstliches oder kaputtes Gelenk gar nicht so schlecht, wie der Laie denken mag. Leistungssportler haben hier sogar einen Vorteil. Walter O. Frey sagt: «Es geht um die Frage: Wie stark verbrauche ich das Knie und wie viel Gutes tue ich ihm?» Lindsey Vonn belastet ihr Knie zwar mehr als jemand im Bürosessel. Doch sie investiert auch jeden Tag Stunden, um das Knie zu pflegen: Sie stärkt die umliegenden Muskeln, ernährt sich richtig, schmiert das Gelenk durch stundenlange Einheiten auf dem Ergometer, was den Stoffwechsel im Gelenk anregt.
Frey vergleicht die Knochen mit zwei Mühlsteinen: Sie reiben zwar bei Arthrose aufeinander, sind aber über die Jahre so gut eingespielt, dass sie sich harmonisch bewegen. «Solange die Natur noch die Möglichkeit hat, Dinge zu kompensieren, und das Gelenk die Möglichkeit, sich zu modellieren, würde ich es nicht wagen, Vonn eine Prognose zu stellen.» Wer ein künstliches Gelenk kaum bewege, riskiere, dass es rascher nicht mehr gut funktioniere.
Es ist kein Zufall, dass Lindsey Vonn das Risiko wagt und das Unbekannte versucht. Sie wollte schon immer Grenzen sprengen und nahm dabei auch die Konsequenzen in Kauf. Frey arbeitet seit Jahrzehnten mit den besten Athletinnen der Welt. «Das Körpergefühl, das sie haben, wie sie auf Reize reagieren und spüren, was ihnen guttut und was nicht – man muss anerkennen, dass das eine andere Liga ist.»
Vonn hat ihren Körper seit ihrem Rücktritt intensiv gepflegt und trainiert. Sie postete Dutzende Bilder und Videos davon, wie sie sich im Kraftraum quälte. So oft, dass man sich fragte, wofür sie das eigentlich tut. Nun ist das Comeback ihre grosse Chance. Nicht viele Skiprofis wären selbst mit völlig intaktem Kniegelenk physisch bereit, mit vierzig Jahren und fast sechs Jahre nach dem Rücktritt wieder eine Weltcup-Abfahrt zu absolvieren. Lindsey Vonn ist es.