Mit Angst, Repression und Folter hielt der syrische Geheimdienstapparat die Bevölkerung in Schach. Im Interview erklärt Noura Chalati, wie das System funktioniert hat – und was Nazis und DDR-Funktionäre damit zu tun hatten.
Frau Chalati, in den Gefängnissen, die nach dem Sturz des Asad-Regimes geöffnet wurden, zeigt sich ein Bild des Grauens. Ein prominenter Syrien-Experte sagte, das seien keine Gefängnisse, sondern Konzentrationslager. Wie sehen Sie das?
Man kann sicherlich sagen, dass das Vernichtungslager waren. Zwar war längst bekannt, welche furchtbaren Zustände dort herrschten. Aber es gab keine Bilder. Man musste sich auf die Erzählungen von Überlebenden der Folter verlassen. Jetzt gehen all diese Aufnahmen um die Welt, die einem das Ausmass dieses Systems vor Augen führen. Noch immer ist die Rede von 200 000 Vermissten. Vielleicht tauchen diese noch aus irgendeinem Untergeschoss auf, vielleicht aber auch nicht. Es wird noch viel Leid und Trauer geben, wenn die Menschen merken, dass ihre Verwandten, von denen sie gehofft hatten, dass sie noch am Leben sind, nicht wiederkommen.
In Videos ist zu sehen, wie Männer, aber auch Frauen und Kinder aus diesen Zellen befreit wurden. Wer landete überhaupt in Asads Gefängnissen?
Alle möglichen Menschen. Manche haben das Regime offen kritisiert – aber das ist eigentlich die Ausnahme. Denn die Menschen wussten, dass sie dafür verhaftet werden. Manche wurden aus religiösen Gründen eingekerkert, andere waren Kommunisten. Aber es waren auch einfache Bürger unter ihnen, die einen falschen Facebook-Post abgesetzt hatten oder deren Nase einem Geheimdienstoffizier nicht gefallen hat. Manche sassen zwanzig Jahre im Gefängnis, ohne zu wissen, wofür. Die Willkür war Regierungsprinzip.
Dieses Machtsystem der Angst wurde primär vom Geheimdienstapparat gepflegt. Wie war dieser aufgebaut?
Unter Asad gab es primär vier grosse Geheimdienste in Syrien – zwei militärische und zwei zivile. Die Unterscheidung ergibt aber nicht so viel Sinn, weil sie alle die Zivilbevölkerung überwacht haben. Interessanterweise hält sich bis heute die Vorstellung, dass es noch viel mehr Geheimdienste gab. Das kommt daher, dass dieses Geflecht absichtlich undurchsichtig war und dass es zahlreiche Unterabteilungen gab. Diese konkurrierten auch untereinander um Macht und Einfluss.
Als besonders mächtig galt der sogenannte Luftwaffen-Geheimdienst. Was hat es damit auf sich?
Der Luftwaffen-Geheimdienst war deswegen so einflussreich, weil er dem Asad-Clan am nächsten stand. Hafez al-Asad, Bashars Vater, war selbst Pilot und hatte damals seine Vertrauten auf die hohen Positionen im Luftwaffen-Geheimdienst gesetzt. Man kann sagen, dass der Luftwaffen-Geheimdienst für die ganz hochsensiblen, staatstragenden Dinge und die Operationen im Ausland zuständig war. Die anderen Geheimdienste waren hauptsächlich für die Überwachung und Unterdrückung der Bevölkerung verantwortlich.
Wie gross war dieser Geheimdienstapparat?
Ich schätze, dass zwischen 70 000 und 80 000 Personen bei den Geheimdiensten angestellt waren. Eine Schätzung für das Jahr 2010 geht von 65 000 Mitarbeitern aus. Das war allerdings vor dem Krieg, es dürften zuletzt sehr viel mehr geworden sein. Die Spitzel und Informanten sind da noch nicht einmal mit eingerechnet. Das dürften zusätzliche 150 000 Personen gewesen sein.
Mit welchen Methoden haben diese Geheimdienste denn gearbeitet?
Es ging vor allem um Einschüchterung, um das Säen von Angst und Misstrauen. Niemand wusste genau, wer ein Informant war. Die Geheimdienste haben Netzwerke aufgebaut, die in die gesamte Gesellschaft hineinreichten. An jeder Uni gab es Geheimdienstler, die die Aussagen von Studenten und Mitarbeitern überwachten. Es war ein gigantischer bürokratischer Apparat, vergleichbar mit der Stasi.
Und dieser Apparat liess ganz viele Leute einfach verschwinden.
Ja, in Syrien gab es sogar einen Begriff dafür: Man sagte von den Verschwundenen, dass sie «jenseits der Sonne» seien – also an einem Ort, den niemand kennt. Gleichzeitig grassierte die Korruption: Wenn jemand verschwand, konnte man Geheimdienstmitarbeiter mit hohen Summen bestechen und erhielt dafür die Information, in welchem Gefängnis er sitzt oder ob der Vermisste überhaupt noch am Leben ist. Deshalb liessen sich so viele Leute für die Geheimdienste rekrutieren, weil man sich dort persönlich enorm bereichern konnte. Für jede Genehmigung, für jeden Stempel musste extra gezahlt werden.
Sie haben dieses Netzwerk von Spitzeln erwähnt – wie hat das funktioniert?
Dieses Netz reichte wirklich in alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens, von Taxifahrern, über Strassenverkäufer und Kioskbesitzer hin zu Unternehmern oder Lehrern. Es gibt in Syrien ein sehr bekanntes Sprichwort: «Die Wände haben Ohren.» Ich habe mir insbesondere die Rekrutierung der Geheimdienste im Ausland angeschaut. Da wurden vor allem syrische Studenten angeworben. Die Überwachung verfolgte Syrer also bis ins Exil und auch dort wussten sie, dass sie nicht über Politisches sprechen sollten, wenn sie etwa ihre Familien angerufen haben.
Der syrische Apparat scheint in Bezug auf das Ausmass der Repression einzigartig gewesen zu sein. Wie ist das entstanden?
Das begann schon in den 1940er Jahren. Die französische Mandatsmacht hatte den Syrern bei der Unabhängigkeit eine nach französischen Prinzipien aufgebaute Armee und einen Militärgeheimdienst hinterlassen. Die Syrer versuchten dann, diesen zu reformieren. Zu diesem Zweck wurden unter anderem ehemalige Nazis angeworben.
Nazis?
Viele ehemalige Mitglieder der SS und der Wehrmacht waren zu diesem Zeitpunkt staatenlos und hatten keine Papiere. Sie gingen auch nach Ägypten und Südamerika. In Syrien haben sie mitgeholfen, die Geheimdienste umzugestalten. In den 1950er Jahren tauchten erstmals diese unfassbar brutalen Elemente von Repression und Folter auf. Dann putschte sich 1970 Hafez al-Asad an die Macht. Das war die Geburtsstunde der Geheimdienste, wie wir sie heute kennen. Asad hat diesen Apparat mit vier Geheimdiensten aufgebaut, die sich gegenseitig überwachten und miteinander konkurriert haben.
In dieser Zeit erhielt Asad auch Unterstützung aus der DDR. Wie sah diese Zusammenarbeit aus?
Syrien war zwar ein blockfreier Staat, aber sympathisierte mit dem Warschauer Pakt. Es gab wirtschaftliche Verflechtungen, dazu lieferte die DDR Waffen an Syrien. Man kann aufgrund der Akten sehr gut nachvollziehen, dass Überwachungsstrategien voneinander gelernt wurden, sowohl im direkten Austausch als auch indirekt durch gegenseitige Überwachung. Gerade im Bereich der Funkaufklärung fand ein reger Austausch statt. Da ging es um Wanzen, um Verschlüsselung, aber auch ganz grundlegendes technisches Wissen.
Nun ist das Asad-Regime gefallen. Können Sie abschätzen, was nach dem Umsturz mit all diesen Geheimdienstmitarbeitern passiert?
Ich denke, dass gerade die hohen Beamten entweder geflohen sind oder jetzt um ihr Leben bangen. Interessant ist, dass die Rebellen eine Generalamnestie für Regime-Soldaten verkündet haben – aber nicht für die Geheimdienste. Es wäre wohl nicht möglich, eine Amnestie für all diese Leute auszurufen. Das gäbe sehr viel Widerstand, weil die Leute die Repression primär mit den Geheimdiensten verbinden. Ich hoffe, dass nun alle Dokumente gesichert werden können, damit es eine Aufarbeitung geben kann, um jene Leute, die tatsächlich Verbrechen begangen haben, zur Rechenschaft zu ziehen.







