Die Islamisten der HTS wollen nach Asads Sturz einen neuen Staat aufbauen. Es ist im Interesse der EU und der USA, diesen Prozess aktiv zu begleiten und dabei ihre Druckmittel geschickt zu nutzen. Nur sollten sie es nicht übertreiben.
Einst nannte er sich Abu Mohammed al-Julani und kämpfte mit wildem Bart, Tarnjacke und Turban für die Terroristen der Kaida. Heute trägt er Anzüge und eine Gelfrisur, zudem verwendet er nun wieder seinen zivilen Namen, Ahmed al-Sharaa. Der mittlerweile mächtigste Mann in Syrien, der mit seiner Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) den Sturz des Asad-Regimes herbeigeführt hat, gibt sich derzeit ungemein viel Mühe, möglichst moderat und vertrauenswürdig zu erscheinen.
Das hat natürlich Kalkül: Sharaa steht vor der schwierigen Aufgabe, in Syrien aus der Asche der Asad-Diktatur einen neuen Staat aufzubauen. Der Umstand, dass seine HTS sowohl vom Uno-Sicherheitsrat als auch von den USA als Terrororganisation gebrandmarkt wurde, ist dabei wenig förderlich. Der Rebellenführer ist jetzt auf Unterstützung, Investitionen und Vertrauen angewiesen. Also versucht er, das Label «Terrorist» um jeden Preis loszuwerden.
Aus westlicher Sicht ist angesichts der jihadistischen Vorgeschichte Sharaas und der HTS eine grosse Portion Misstrauen und Skepsis geboten. Nur, weil die Islamisten nicht Asad sind, sind sie noch lange keine Heilsbringer. Gleichzeitig stellt sich die unbequeme Frage: Wie soll mit den neuen syrischen Machthabern umgegangen werden? Soll man mit den Terroristen verhandeln? Ja, man soll.
Die Rebellen zeigten sich vorerst diszipliniert
Zwei Gründe sprechen dafür: Erstens ist es im Interesse Europas, dass die Millionen von Menschen, die vor der Schreckensherrschaft Asads geflüchtet sind, bald in ein möglichst sicheres und stabiles Syrien zurückkehren können. Zweitens ist das Land am Mittelmeer ein geopolitisch und strategisch enorm wichtiges Pflaster – was in Syrien passiert, wirkt sich auf die gesamte Region aus.
Es ist deshalb nur logisch und richtig, dass die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas mit Michael Ohnmacht einen ihrer Spitzendiplomaten nach Damaskus entsandt hat, um den Zeh ins Wasser zu halten. Auch die USA haben jüngst bestätigt, dass sie erste Kontakte zur HTS aufgenommen hätten. Laut Aussenminister Antony Blinken wurden dabei auch mehrere «Prinzipien» übermittelt, die für einen friedlichen Übergangsprozess sorgen sollen.
Man muss den syrischen Rebellen zugutehalten, dass sie zumindest bisher eine gewisse Disziplin an den Tag gelegt haben: Der Umsturz verlief weitgehend unblutig. Übergriffe und Racheakte gegenüber Minderheiten hat es gegeben, es scheint sich aber um Einzelfälle zu handeln. Zudem wurde relativ rasch eine Übergangsregierung eingesetzt. Ahmed al-Sharaa hat derweil angekündigt, Institutionen aufzubauen, die zahlreichen Milizen aufzulösen und in eine Armee zu integrieren, Minderheiten zu schützen und den Frauen keine Kleidervorschriften zu machen.
Lasst die Moralkeule stecken
Natürlich ist es in erster Linie an den Rebellen selbst, den schönen Worten Taten folgen zu lassen. Gleichzeitig hat der Westen gewichtige Druckmittel in der Hand, um diesen Prozess in seinem Sinne zu begleiten und zu beeinflussen: So könnten beispielsweise eine Aufhebung der Einstufung als Terrororganisation, eine Lockerung von Sanktionen oder Investitionen in Aussicht gestellt werden, sofern die HTS im Gegenzug konkrete Reformen umsetzt.
Gleichzeitig bietet sich der EU und den USA die Gelegenheit, die geopolitischen Verhältnisse im Nahen Osten zu stabilisieren. Sowohl Russland als auch Iran haben das syrische Territorium während vieler Jahre dazu genutzt, ihren Einfluss auf die Region zu projizieren, und werden versuchen, diesen wieder auszuweiten. Der Westen sollte die Chance nutzen, die Rebellen dazu zu bringen, den Ambitionen Moskaus und Teherans eine Absage zu erteilen.
Gleichzeitig wäre es ein Fehler, nun übermässig die Moralkeule zu schwingen und von den neuen Machthabern erstklassige westliche Standards einzufordern. Zu oft ist der Westen an seinem Anspruch gescheitert, in den Entwicklungsländern für Demokratie zu sorgen. Es wäre vermessen, zu glauben, dass im fragmentierten Syrien von heute auf morgen eine liberale Demokratie entstehen wird. Pragmatismus ist das Wort der Stunde – also muss man auch mit ehemaligen Kaida-Kämpfern das Gespräch suchen.








