Seit einem Jahr heulen praktisch täglich die Raketenalarme im jüdischen Staat. Eine visuelle Datenauswertung zeigt, welche Regionen besonders betroffen waren – und wie viel Geld in Israels Abwehrsysteme fliesst.
In Israel weiss jeder, worum es geht, wenn die zwei Wörter «Tzeva Adom» (Farbe Rot) fallen: Es geht um Leben und Tod. Sobald im jüdischen Staat ein Raketenalarm ausgelöst wird, heulen nicht nur die Sirenen. Dank einer Warn-App beginnen auch Tausende Handys zu vibrieren, während eine Frauenstimme «Tzeva Adom, Tzeva Adom» sagt und damit die Israeli auffordert, sich in Sicherheit zu bringen – und das passiert täglich.
Seit Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 wurden im Durchschnitt jeden Tag 95 Raketenalarme ausgelöst. Wer nie in Israel war, unterschätzt leicht, wie präsent die Bedrohung durch die Raketen ist, die aus allen Himmelsrichtungen auf das Land abgeschossen werden. Diese Bedrohung ist aber nicht nur eine Belastung für die Bevölkerung, sondern auch für die Staatsfinanzen – denn die hochmoderne Raketenabwehr Israels kostet sehr viel Geld.
Die Raketenalarme spiegeln den Mehrfrontenkrieg
Yuval Harpaz ist eigentlich Hirnforscher. Doch wenn sein Arbeitstag vorbei ist, beginnt der israelische Wissenschafter damit, alle möglichen Daten zu sammeln. Während der Pandemie verfolgte er akribisch die Infektionszahlen in seinem Land, seit Kriegsbeginn fokussiert er sich insbesondere auf die Raketenalarme. Mithilfe der Rohdaten der Warn-App listet er fein säuberlich Art, Zeitpunkt und Ort jedes Alarms auf. «Es ist ein ungewöhnliches Hobby», sagt Harpaz mit einem Schmunzeln.
Für diesen Artikel hat er seinen Datensatz der NZZ zur Verfügung gestellt. Die Auswertung fördert eindrückliche Zahlen zutage: Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 30. November 2024 hat die App rund 40 000 Alarme ausgelöst. Der Datensatz von Yuval Harpaz erlaubt es ausserdem, den Raketenhagel auf Israel im zeitlichen Verlauf darzustellen und örtlich einzugrenzen. Das Resultat widerspiegelt die unterschiedlichen Phasen des Mehrfrontenkrieges:
Der Hizbullah löste die meisten Alarme aus
Stellt man die Raketenalarme auf der Zeitachse dar, ist deutlich zu erkennen, wie der Beschuss durch die Hamas zwischen Oktober und Dezember 2023 markant abnimmt, während ab September 2024 der Hizbullah seine Raketensalven intensiviert – bis die Schiitenmiliz und Israel am 27. November ein Waffenstillstandsabkommen vereinbaren.
In den Daten ist zudem ersichtlich, welche Akteure die jeweiligen Raketenalarme ausgelöst haben. Die grosse Mehrheit wurde durch den Hizbullah verursacht – rund 21 ooo Alarme. Die Hamas-Raketen aus dem Gazastreifen lösten hingegen «nur» 11 000 Alarme aus.
Alarmiert wird nur dann, wenn ein Geschoss Kurs auf besiedeltes Gebiet nimmt. Wenn von vornherein klar ist, dass es in offenem Gelände einschlagen wird, bleiben die Sirenen stumm. Andererseits kann eine einzelne Rakete auch mehrere Alarme auslösen: Wenn nicht ganz klar ist, wohin sie fliegt, wird in mehreren Dörfern und Städten gleichzeitig alarmiert.
Laut den israelischen Streitkräften (IDF) haben seit Kriegsbeginn rund 10 000 Hamas-Raketen den israelischen Luftraum erreicht – sie lösten fast gleich viele Alarme aus. Anders ist das bei den rund 17 000 Raketen, die laut den IDF vom Hizbullah abgefeuert wurden. Sie sind oftmals moderner und deshalb weniger berechenbar – also lösten sie auch mehr und grossflächigere Alarme aus.
Besonders interessant ist das Beispiel Iran: Im Rahmen der beiden Angriffe am 13. April und am 1. Oktober feuerte das Teheraner Regime zusammengenommen rund 500 ballistische Raketen, Marschflugkörper und Drohnen auf Israel – diese lösten aber insgesamt 4400 Alarme in ganz Israel aus. Das hat damit zu tun, dass die Radarsysteme in Israel zunächst nur schwer abschätzen konnten, wo die iranischen Raketen einschlagen würden. Deshalb heulten insbesondere beim zweiten Angriff, wo 180 ballistische Raketen zum Einsatz kamen, die Sirenen in weiten Teilen des Landes.
Drei Millionen Dollar für eine Abwehrrakete
Die iranischen Attacken sind noch aus einem zweiten Grund aussergewöhnlich: Die Abwehr der dabei verwendeten ballistischen Raketen ist extrem teuer. Solche Geschosse verlassen auf ihrem Parabelflug die Erdatmosphäre – also müssen auch die Abwehrraketen eine entsprechende Reichweite haben.
Israel nutzt dazu das sogenannte Arrow-System. Es ist das weitreichendste und teuerste System im israelischen Abwehrschirm: Eine einzige Arrow-Rakete kostet rund 3 Millionen Dollar. Komplettiert wird die Flugabwehr von den beiden Systemen David’s Sling – benannt nach dem biblischen David und seiner Schleuder – und dem berühmten Iron Dome, die ihrerseits etwa Marschflugkörper, Artilleriegeschosse oder Kurzstreckenraketen abwehren können.
Laut Schätzungen soll allein die Abwehr des iranischen Angriffs am 13. April rund 550 Millionen Dollar gekostet haben. Dabei feuerte Teheran in mehreren Wellen über 300 ballistische Raketen, Drohnen und Marschflugkörper ab. Israel wehrte die Attacke nicht nur mit Arrow-Raketen ab, sondern auch mit Stunner-Raketen des Systems David’s Sling, die je rund 1 Million Dollar kosten, sowie Iron-Dome-Raketen mit einem Kostenpunkt je von 50 000 Dollar. Dazu kamen die Kosten für die 100 israelischen Kampfjets, die in dieser Nacht während rund sechs Stunden in der Luft waren.
Offizielle Angaben dazu, wie viel die Abwehrschlacht der Raketen seit dem 7. Oktober den jüdischen Staat gekostet hat, gibt es nicht. Zur Frage, wie viele Abwehrraketen insgesamt eingesetzt wurden, halten sich die IDF bedeckt. Aufgrund des Datensatzes von Yuval Harpaz kann man jedoch einen «Mindestpreis» für die Raketenabwehr errechnen.
Harpaz erfasste in seinen Daten über 40 000 Alarme. Allerdings steht nicht jeder dieser Alarme für einen einzelnen Angriff – eine Raketensalve löste oft gleich mehrere Alarme aus. Wenn nun alle zeitgleich ausgelösten Alarme zusammen als ein Angriff gezählt werden, verbleibt am Ende eine Gesamtzahl von 14 413 Raketenangriffen auf bewohntes Gebiet.
Geht man nun davon aus, dass für jeden dieser Angriffe mindestens eine Tamir-Abwehrrakete des Iron Dome à je 50 000 Dollar eingesetzt wurde, ergibt sich eine Gesamtsumme von mehr als 720 Millionen Dollar. Da aber bei vielen Angriffen gleichzeitig Dutzende Raketen auf Israel abgefeuert wurden und dementsprechend mehrere Abwehrraketen zum Einsatz kamen, dürfte die reale Summe um einiges höher sein. Ebenfalls nicht in dieser Rechnung berücksichtigt sind die viel teureren Abwehrraketen von Arrow und David’s Sling sowie die Kosten für die Instandhaltung, Reparaturen und das Personal.
Klar ist: Israel lässt sich seinen Raketen-Schutzschirm viel kosten – mindestens einen einstelligen Milliardenbetrag. Wenn man aber bedenkt, dass Israel im Jahr 2024 rund 30 Milliarden Dollar für die Verteidigung ausgegeben hat, ist die Raketenabwehr geradezu ein kleiner Budgetposten.








