83 Brücken, 31 Tunnels und 348 Kurven in knapp in knapp zwei Stunden: Für Bahnliebhaber gehört die verschlungene Strecke zwischen Locarno und Domodossola zu den schönsten Europas – auch, weil sie nicht von Touristen überrannt wird.
Die Eisenbahn ist dazu da, Passagiere schnell, reibungs- und schmerzlos von A nach B zu bringen. So die landläufige Meinung, von der Parlamentarierin auf dem Weg nach Bern bis zum Luzerner Wanderer, der seine Bergtour in Chur starten will: Man hofft, die Zeit zwischen A und B möge rasch verstreichen.
Manch Zugstrecken aber sind ein Erlebnis für sich. Ihr Weg ist das Ziel. Dafür gibt es hierzulande mehrere Beispiele, zu denen ganz sicher eine Jubilarin namens Centovalli-Bahn gehört. Auf den Tag genau hundert Jahre ist es her, seit am 25. November 1923 zwei festlich geschmückte Züge ihre Jungfernfahrt zwischen Locarno und Domodossola antraten.
Logenplatz für das Naturschauspiel
Heute ziert die Centovallina, wie die Verbindung auf Schweizer Seite liebevoll genannt wird, die Lonely-Planet-Liste der zehn landschaftlich schönsten Zugfahrten Europas. Tatsächlich wird man beim Blick aus dem Panoramafenster das Gefühl nicht los, einen Logenplatz zu haben für ein Schauspiel, entstanden in Kooperation zwischen bauwilliger Menschenhand und nimmermüder Natur. Und Schönheit gilt es zu geniessen, deshalb ist diese Reise auch eine Wiederentdeckung der Langsamkeit: Die 52 Kilometer umfassende Fahrt um 348 Kurven und über 83 Brücken dauert knapp zwei Stunden; das Durchschnittstempo von 28 km/h entspricht etwa jenem des Bernina-Expresses und ist nicht einmal doppelt so hoch wie das der Zürcher Trams.
Die Fahrt wird zur Offenbarung, beginnt und endet aber in der Unterwelt. Im Bahnhof Locarno ist 1990 eine subterrane Station eingerichtet worden. Von da aus rollt das Bähnchen die ersten drei Kilometer – auf der ganzen Strecke erreicht es einzig in diesem Teil seine Höchstgeschwindigkeit von 55 km/h – ohne Tageslicht, um dieses kurz vor seiner Fahrt entlang der Maggia wiederzuerlangen.
Nach der Station Ponte Brolla queren wir beim blassrosa gestrichenen Albergo Centovalli, wo einer der besten Risotti weit und breit gekocht wird, die tiefe Schlucht der Maggia mit ihren vom Wasser polierten Felsen und biegen in die sonnenreiche Terre Pedemonte ein. Nur der eine oder andere Zug hält in Verscio, wo sich ein Besuch der Scuola Dimitri anbietet, der vor bald fünfzig Jahren vom berühmten Clown gegründeten Ausbildungs- und Bühnenstätte. Doch das ist längst nicht die einzige der gut zwei Dutzend Haltestellen, bei denen sich ein Aussteigen lohnt, wobei meist nur auf Verlangen gehalten wird.
Vor Intragna, dem mit dem kantonsweit höchsten Campanile ausgestatteten Hauptort des Centovalli und Tor zu diesem, überquert das blau-beige Züglein sehr fotogen den Nebenfluss Isorno, nämlich in 75 Metern Höhe über eine spektakuläre Stahlbrücke. Sie ist nicht nur ein beliebtes Bildsujet, sondern inspirierte schon manche zu tollkühnen Aktionen: Vor fast hundert Jahren sprang der Tessiner Holzfäller Plinio Romaneschi mit einem Fallschirm hinunter und stellte damit einen Weltrekord auf. Und 1980 balancierte der für ausgefallene Aktionen berühmte französische Seiltänzer Philippe Petit die Schlucht auf einem Seil.
Die Signatur des Königs
Das Bähnchen springt nicht und tanzt nicht, doch hat es von hier an zu kämpfen und zu keuchen. Das Trassee wird steil, die Aussicht so atemraubend, dass man eines gerne vergisst: Diese Linie, die Gotthard- mit der Simplonstrecke verbindend, wurde einst nicht zum touristischen Vergnügen gebaut. Es galt, das Hinterland von Locarnos damaliger Blüte profitieren zu lassen, den damals noch 2400 Einwohnern des Centovalli-Gebiets neue Perspektiven zu erschliessen und ihren Radius zu erweitern (den Schmuggler im Zweiten Weltkrieg dann für ihre Zwecke zu nutzen wussten). Während der Bauzeit belebten Tausende aus allen Sparten beteiligte Berufsleute die Region. Gasthäuser und Geschäfte entstanden. Dem Ziel jedoch, mit dem Verkehrsweg die Talschaft an die Wirtschaft anzuschliessen, war kein durchschlagender Erfolg beschieden. Die Dörfer entwickelten sich kaum nachhaltig weiter.
Initiatoren der von Anfang an elektrifizierten Linie waren der italienische Lehrer Andrea Testore und Locarnos Stadtpräsident Francesco Balli, ein grosser Förderer des Schienenverkehrs. Er gründete auch die heute noch populäre Standseilbahn hinauf zur Madonna del Sasso und zwei Linien, die in den 1960er Jahren eingestellt werden sollten: das Tram von Locarno und die Maggiatalbahn.
Nach langem Hin und Her unterzeichnete der eidgenössische Bundesrat mit seiner Majestät, dem König von Italien, ein Übereinkommen für den gemeinsam betriebenen Verkehrsweg, das noch immer in Kraft ist. Als Projektingenieur wurde Giacomo Sutter gewonnen, dessen Biografie eine Brücke zwischen den Regionen schlug: Er hatte als in Airolo aufgewachsener Bündner an der ETH Zürich studiert. Die ursprünglich auf drei Jahre angelegte Bauzeit der Bahnlinie dehnte sich allerdings dann, vor allem wegen Unterbrüchen aufgrund des Ersten Weltkriegs, auf fast das Vierfache.
So wandern auf einer Zugfahrt durchs Centovalli und seine Siedlungen die Gedanken in die Vergangenheit, während die Gegenwart gemächlich vor den Fenstern vorüberzieht. Minutenlang fährt man direkt durch den Wald, glaubt das Moos zu riechen oder gar hier und dort einen Wichtel zu erspähen, während ein einsames Rustico ganz still und stumm steht. Und inmitten schlichter Bauten kann plötzlich ein repräsentatives Haus auftauchen. Gelegentlich zwängt sich das Gefährt durch einen von 31 Tunneln, der ihm kaum mehr Platz zu bieten scheint als ein Häuschen der Schnecke. Dann wieder öffnen sich Weiten rund um die Schmalspurbahn von nur einem Meter Breite.
So eng ist das Trassee stellenweise, dass man sich fragt, wie man jemals auf die verwegene Idee kommen konnte, hier eine Zuglinie durchzuführen. Wir blicken hinab in Kluften, mitunter scheint keine Hand dazwischen zu passen, und ertappen uns beim Gedanken: Würde sich unser braves Bähnchen jetzt einen Fehltritt erlauben, wäre es geliefert und wir mit ihm.
Es ist wie im richtigen Leben: Hier öffnen sich Abgründe, dort türmen sich Hügel und Berge auf. Und ab und zu steigt etwas Rauch in die Nase (weil draussen gerade Holzabfälle verbrannt werden). Die Jahreszeiten erhält man derweil auf dem Tablett serviert, auch dank den Kastanien- und Buchenwäldern: Im Herbstkleid wird die Strecke als «Foliage-Train» beworben, diese «Laubfahrt» führt durch ein farbenprächtiges Gemälde, wie nur die Natur es hinbekommt.
Nun gut, man geniesst nicht gerade den Komfort des Orientexpresses, aber ist ja auch nicht wochenlang unterwegs. Wer braucht da einen Speisewagen? Bei unserer Fahrt kommt eine Frau vorbei, die Kaffee à 3 Franken 50 aus einer Thermoskanne in Plastikbecher schüttet und noch ein paar verpackte Guetzli im Angebot hätte. Das eingesetzte Roll- und Gleismaterial wiederum zeugt von verschiedenen Epochen, Mentalitäten und Bautechniken, je nachdem fährt man mehr oder weniger gefedert, dringt das Rattern stärker oder weniger stark in Gelenke und Ohr. Nebst den internationalen Zügen verkehren auf Teilstrecken auch regionale.
Betrieb und Infrastruktur werden verantwortet von zwei Unternehmen aus zwei Ländern, und beide finden wohl, ihr Material biete das beste Fahrgefühl. Die Schweizer FART hält fest, ihr Centovalli-Express sei in den letzten Jahren vollständig modernisiert worden – und sie hat auch schon in die Zukunft investiert: 2025 sollen acht nigelnagelneue Kompositionen in Betrieb gehen, die bei Stadler-Rail bestellt sind.
Pilgerort und Fussballacker
Bis zur Grenze folgen fünf weitere Stationen, von Verdasio (mit Seilbahnen auf den Monte Cimino und zum per Auto nicht erreichbaren Dörfchen Rasa) bis zu Camedo, wo ein Boot auf einem Anhänger parkiert ist. Wo zum Teufel will das da oben wassern? Vielleicht im nahen Stausee der Maggia Kraftwerke AG – oder in der Sintflut wie die Arche Noah: Camedo ist einer der regenreichsten Orte der Schweiz, wovon drei Landesrekorde zeugen. Als solcher gelten die 318 Liter pro Quadratmeter, die am 7./8. August 1978 fielen. Das Hochwasser zerstörte die Strassen – und die rasch wiederhergestellte Bahnlinie unterstrich ihre Bedeutung für die Region.
Knapp vor Halbzeit der Fahrt erreichen wir die italienische Seite und damit das Valle Vigezzo, in dem die Centovallina im Volksmund zur Vigezzina wird. Auf diesem Teil hält die Strecke einige ihrer grössten Kulturschätze bereit. Auf der Ebene mit sattgrünen Wiesen darf unser Bähnchen etwas Gas geben, für seine Verhältnisse rast es geradezu, für andere bleibt es ein Bummelzug, der selbst auf der Geraden phasenweise schwankt wie eine Kutsche.
Wir steuern auf Re zu, und so kurz der Name, so verrückt die Geschichte dieses Pilgerorts. Die über ihm thronende Wallfahrtskirche in Form einer Basilika ist erst vor hundert Jahren errichtet worden, im Gedenken an ein vor über 500 Jahren registriertes Wunder: Ein Madonnenbild blutete. Der Namenspatronin wird zehn Fahrminuten später, im Hauptort Santa Maria Maggiore, ein grosser Bahnhof bereitet, wie es sich für die Muttergottes gehört. Die italienische Flagge hängt, Touristen tummeln sich im schmucken Städtchen, das seine Gäste mit Attraktionen wie dem Kaminfegermuseum in der Villa Antonia oder weitherum bekannten Weihnachtsmärkten anlockt. In diesem Gebiet erreicht die Reise auf 840 Metern ü. M., was etwa dem Gipfel des Zürcher Üetlibergs entspricht, ihren höchsten Punkt. Hier fanden vor hundert Jahren auch die zwei Gleisbauteams zusammen, die an den entgegengesetzten Enden der Strecke mit ihrer Arbeit begonnen hatten.
Nach unspektakulären Landschaftsszenerien fast wie im Schweizer Mittelland tauchen wir wieder in Wälder ein. Ein verwaister Bagger wartet, worauf auch immer, umringt von Bäumen. Irgendwo liegt ein nicht WM-tauglicher Fussballacker brach, im Hintergrund erheben sich gegen 2000 Meter hohe Berge.
Bald geht es abwärts mit quietschenden Bremsen, am bewaldeten Hang vis-à-vis erscheinen reizende Weiler. Es folgt eine gewaltige Kurve auf einem Viadukt, die Ouvertüre zu einem letzten Feuerwerk an Eindrücken auf dem steil und steiler werdenden Abstieg. Er führt entlang der südlichen Talflanke bis Trontano, wo ein alter Centovalli-Bahnwagen seinen Ruhestand in einem Gärtchen verbringen darf. Einige seiner Altersgenossen werden wir später verwahrlost und verrostet auf einem Nebengleis kurz vor dem Endbahnhof sichten.
Das stille Schlussfeuerwerk
Vorher aber gibt es die eigentliche Achterbahnfahrt, die sich die Centovallina alias Vigezzina mit Sinn für Symbolik für Italien aufgespart hat. Das Gefälle beträgt bis zu 60 Promille, die Haarnadelkurven haben Radien von 50 Metern, das Tempo ist zum Glück höchst moderat. Heil unten in Masera angelangt, nehmen wir erstmals wieder Autos wahr, die Tempo bolzen, Kühe grasen, und durch den Lautsprecher scheppert die Stimme: «Prossima e ultima fermata: Domodossola!» Das Züglein gibt Gas, als könne es kaum erwarten, seinen Heimathafen zu erreichen. Oder ist dieser in Locarno?
Noch wenige Minuten dauert es, bis die unterirdische Endstation das Gefährt verschluckt. Mit Blick auf die Direktverbindungen nach Brig (eine halbe Stunde), Genf (2½ Stunden) oder Bern (1½ Stunden) wird klar, welch wichtige Brücken zwischen der Süd- und der Restschweiz diese Linie schlägt. Sie ermöglicht nicht nur die reizvollste, sondern trotz gemächlichem Tempo noch immer auch die schnellste Bahnreise zwischen Lago Maggiore und Lac Léman.
Leseratten mögen finden, im Auf und Ab der Centovalli-Route würden ihnen die Buchstaben vor den Augen tanzen, und Businessleute die Internetverbindung auf der Strecke bemängeln, so wie hier überhaupt alles viel zu langsam gehe. Verwöhnte mögen ganz pauschal den Luxus vermissen. Aber auf dieser Fahrt sollte man ohnehin nicht lesen, arbeiten oder schlemmen. Man soll nur staunen.
Es hat viel für sich, beschaulich und zeitweise ohne Netz durch die Landschaft zu ruckeln, statt per Hochgeschwindigkeitszug durch topfebene Landstriche zu rasen und dabei fast so schnell im Web zu surfen. Ist nicht auch das Leben in all seinen verschlungenen Gesetzmässigkeiten viel eher kurvenreiche Reise als Autobahn? Diese Erkenntnis ist im Preis von 45 Franken pro Weg (ohne Halbtax) inbegriffen, auch wenn man gar nicht nach B will.
Die Centovallina wird ihren Geburtstag ein ganzes Jahr lang mit Aktionen feiern, und 2024 ist ihr ein Raum im Verkehrshaus Luzern gewidmet (www.fartiamo.ch/100-anni). Das Jubiläumsbuch «100 Jahre Centovallina» (Salvioni Editions) ist ab sofort im Handel.