Max Kresch kämpfte an der libanesischen Grenze, Michael Ofer-Ziv bewilligte Luftangriffe im Gazastreifen. Jetzt wollen sie nicht mehr für eine israelische Regierung in den Krieg ziehen, die sie «faschistisch» nennen.
Es ist ein sonniger Freitag im Spätherbst. An der Strandpromenade von Tel Aviv haben sich Familien zum Picknick niedergelassen, Jogger rennen vorbei, daneben schlendern Passanten in Shorts und T-Shirt. Nichts erinnert hier an den Krieg, an die Schützengräben an Israels Nordgrenze, wo Max Kresch in einer Kampfeinheit diente.
«Als die sechs Geiseln ermordet wurden, war das für mich ein Wendepunkt», sagt der 28-Jährige auf einer Parkbank in Sichtweite des Mittelmeers. Nachdem die Hamas Ende August sechs verschleppte Israeli im Gazastreifen mit Kopfschüssen exekutiert hatte, fasste der junge Mann mit dem gepflegten dunklen Bart den Entschluss, nicht mehr zu dienen.
Kresch ist einer von 130 Reservisten, die im Oktober einen Brief unterschrieben haben, in dem sie öffentlich verkündeten, den Dienst in der israelischen Armee zu verweigern. Ihre Begründung: Der Krieg trage nicht zur Freilassung der Geiseln bei, sondern gefährde deren Leben.
Reservisten, die nicht zum Dienst erscheinen, sind immer noch eine Minderheit. Doch die «refuseniks» werden zahlreicher: Im November berichteten israelische Medien, dass sich nur noch 75 bis 85 Prozent der einberufenen Reservisten zum Dienst meldeten. Nach über einem Jahr Krieg seien viele der eingezogenen Soldaten ausgelaugt und gingen nicht mehr ans Telefon, wenn ihr Offizier sie anrufe. Auf Anfrage wollten die israelischen Streitkräfte die Berichte nicht kommentieren.
Kinder töten als religiöse Pflicht
Am 7. Oktober 2023 hätten alle gedacht, dass der Hizbullah einen ähnlichen Angriff wie die Hamas im Süden beginnen würde, erinnert sich Kresch an den Kriegsbeginn. Er wurde sofort an der libanesischen Grenze stationiert. «Ich ging davon aus, dass wir abgeschlachtet werden», sagt er. «Ich hoffte nur, dass wir sie aufhalten können. Wir waren an vorderster Front.»
Dazu kam es nicht. Trotzdem machte sich bei Kresch bald Ungemach breit. «In meiner Einheit dienten viele religiöse Zionisten. Sie sagten sehr verstörende Dinge, die oftmals ohne Widerspruch blieben», erzählt Kresch. «Einmal behauptete einer von ihnen, es sei eine Mitzvah – eine religiöse Pflicht –, alle Palästinenser zu töten, auch die Frauen und Kinder. Diese unterstützten entweder die Hamas oder würden zu Terroristen, sobald sie erwachsen seien.»
Trotzdem mache er nicht die einzelnen Soldaten für solche Aussagen verantwortlich, sondern Israels Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. «Wenn du eine politische Führung hast, die diese Rhetorik fördert und legitimiert, dann werden solche Ansichten dominant.» Die Methoden der Regierung kämen «direkt aus dem faschistischen Lehrbuch», sagt Kresch.
«Ich empfand es als ein Privileg, zu dienen»
Nach zwei Monaten an der libanesischen Grenze wurde Kresch aus dem Reservedienst entlassen. «Ich war sehr depressiv, als ich wieder nach Hause kam», sagt er mit leiser Stimme. In den folgenden Monaten habe er etwa 20 Mal einen Brief an seinen Kommandanten formuliert, wieder gelöscht und neu geschrieben. Erst nach der Ermordung der Geiseln war er sich sicher: «Die Verschleppten sind keine Priorität für diese Regierung.» Den Sperrbildschirm seiner Smartwatch ziert die gelbe Schleife, die an die Geiseln erinnert, die immer noch in Gaza sind.
Kresch lässt keine Gelegenheit aus, Israels rechte Regierungskoalition zu kritisieren. Trotzdem bezeichnet er sich selbst nicht als Linken. «Ich glaube an Menschenrechte – wenn das ‹links› ist, dann bin ich wohl links.» Viele Linke in Israel würden nicht wie er in einer Kampfeinheit dienen oder an Einsätzen im besetzten Westjordanland teilnehmen. Kresch hat beides gemacht, weil er der Ansicht war, dass er von innen etwas verändern könne. «Ich empfand es immer als ein Privileg, in der Armee zu dienen.» Diesen Glauben habe er nun verloren.
Der Offizier, der Luftangriffe in Gaza autorisiert
Auch Michael Ofer-Ziv hat den offenen Brief unterzeichnet. «Nach dem 7. Oktober war mir klar, dass wir eine militärische Aktion brauchen, um der Situation Herr zu werden.» Zwei gute Freunde seiner Schwester seien von der Hamas ermordet worden, eine von ihnen war die Deutsch-Israeli Shani Louk.
Als die Hamas Hunderte Menschen im Süden Israels massakrierte, war der 29-Jährige in der Türkei in den Ferien. Nur sechs Tage später meldete er sich zum Dienst in einem Kommandozentrum in der Nähe der Wüstenstadt Beer Sheva. Obwohl er weit vom Gazastreifen entfernt war, hatten seine Entscheidungen unmittelbare Konsequenzen auf dem Schlachtfeld: Ofer-Ziv ist Offizier und musste unter anderem Luftangriffe im Gazastreifen autorisieren. Dabei sollte er sicherstellen, dass die Bombardements nicht die eigenen Soldaten treffen. Schon nach wenigen Wochen war der junge Mann allerdings desillusioniert – und schockiert.
In dem Kommandozentrum habe es viele Bildschirme mit Echtzeit-Übertragungen der Aufklärungsdrohnen gegeben. «Man sieht diese Schwarz-Weiss-Bilder ohne Ton, manchmal Explosionen, aber es fühlt sich sehr weit weg an. Als wäre man gar nicht daran beteiligt», erzählt Ofer-Ziv auf dem blauen Sofa in der grossen Wohnung im Zentrum von Tel Aviv, wo er gemeinsam mit seiner Freundin lebt. Im zivilen Leben arbeitet er bei einem der vielen Tech-Unternehmen in Israels grösster Stadt.
Die Befehlskette für Luftangriffe sei sehr lang. «Einzelne Soldaten wählen die Ziele aus, machen die Planung, sprechen sich ab, und am Ende des gesamten Prozesses kommen sie zu mir, und ich genehmige einen Aspekt des Angriffes – dass wir nicht auf uns selbst feuern.» Der Offizier ist überzeugt, dass das System auch so aufgebaut sei, damit niemand die alleinige Verantwortung für einen Luftangriff habe, bei dem Dutzende Menschen getötet werden könnten.
«Auf ein zerstörtes Haus mehr kommt es nicht an»
Ofer-Ziv war vor allem an den sogenannten taktischen Luftangriffen beteiligt, wenn Soldaten etwa unter Beschuss gerieten und Luftunterstützung anforderten. «Wir als Brigade haben jeden Tag eine bestimmte Anzahl an Luftangriffen zugewiesen bekommen. Manchmal hatten wir eine Quote von sieben, brauchten aber nur fünf Angriffe.»
Die Zahl der zugewiesenen Luftangriffe sei allerdings immer ausgeschöpft worden. «Wir haben dann innert fünf Minuten noch weitere Ziele herausgesucht, die bombardiert wurden», sagt Ofer-Ziv. «Es herrschte eine Atmosphäre der Sorglosigkeit: Viele haben gesagt, dass wir sowieso alles zerstören werden, da komme es auf ein Haus mehr oder weniger nicht an.»
Nachdem Ofer-Ziv im vergangenen Dezember entlassen wurde, entschloss er sich, nicht wieder zum Dienst zu erscheinen. Er habe die Kriegsführung im Gazastreifen nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren können. Ausschlaggebend dafür, dass Ofer-Ziv den offenen Brief unterzeichnete, war ein Vorfall wenige Tage nach seiner Entlassung, als israelische Soldaten aus Versehen drei Geiseln erschossen. «Mir war klar, dass der militärische Druck die Geiseln tötet.»
Verweigerer kommen nicht ins Militärgefängnis
Im Gegensatz zu Max Kresch war Michael Ofer-Ziv schon immer ein Linker – jemand also, der die Besetzung des Westjordanlands ablehnt und sich für Frieden mit den Palästinensern engagiert. Beide Männer sagen, sie seien nach ihrer Dienstverweigerung vom Militär kontaktiert worden.
«Der Offizier, der mich anrief, wollte mich überzeugen, meine Unterschrift zurückzuziehen», sagt Ofer-Ziv. «Als ich ihm gesagt habe, dass ich es nicht tue, wurde mir mitgeteilt, dass ich für immer vom Dienst suspendiert sei.» Theoretisch könnte er ins Militärgefängnis gesteckt werden, allerdings passiert das fast nie.
Ofer-Ziv glaubt, dass auch viele andere Dienstverweigerer seiner Meinung sind. «Ich wünschte mir, sie würden es öffentlich machen», sagt er. Nun ist der ehemalige Offizier aufgebracht, redet lauter und schneller. «Dann würde die Regierung endlich einsehen, dass sie nicht einfach mit dem immergleichen Lösungsansatz vorgehen kann: mehr Soldaten an die Front werfen.» Doch auch er dürfte wissen, dass die meisten israelischen Verweigerer nicht aus politischer Überzeugung handeln – sondern schlicht weil sie nach Hunderten Tagen im Kampf müde und ausgelaugt sind.