Jetzt tritt er als Präsident der Mitte-Partei zurück. Um sich als Bundesrat neu zu erfinden?
Die Präsidentschaft von Gerhard Pfister hätte schon am 28. November 2020 enden können, das war der Tag, der über ihn richtete. Er stand in einer Mehrzweckhalle im Zuger Ägerital, wo er herkommt, und kettete sein Schicksal an einen neuen Namen: «Die Mitte». So sollte seine Partei, die traditionsreiche CVP, künftig heissen, fusioniert mit Restbeständen der BDP, ein Bund des Ungefähren.
Pfister warf alles in seine Rede, was er hatte: Er habe die CVP in den Wahlen von 2019 stabilisiert – nach langem, stetigem Niedergang, und obwohl alle vom Gegenteil ausgegangen seien. Man solle ihm auch jetzt vertrauen, wenn es um die Zukunft gehe. Die Jungen in der Partei stünden hinter ihm. Einen Plan B habe er nicht.
Er verkündete eine Zukunft, die im Ungewissen lag. In den katholischen Stammlanden wurde seit Monaten routiniert abgewinkt: Eine CVP ohne C und den Bezug zum Christentum – niemals. Würde seine Partei ihm nun in die Mitte folgen?
Die Endzeitfigur
Eigentlich war er im Jahr 2016 als CVP-Präsident angetreten, um das Gegenteil dessen zu erreichen, was er jetzt vertrat. Er wollte das C nicht opfern, sondern stärken. An einer Delegiertenversammlung in Appenzell sprach er sich gegen den radikalen Islam, gegen die Burka, für «christlichdemokratische Werte» aus. Er sagte, man sei viel zu lange tolerant gewesen gegenüber Intoleranten. In der CVP sahen sich viele bestätigt: Hatte Gerhard Pfister nicht immer als letzter Abgeordneter der Katholisch-Konservativen gegolten?
Er stammt aus einer Schweiz, die sich bereits in Auflösung befand. Er besuchte als Kind die Klosterschule in Disentis, um danach an der Universität in Freiburg Literatur und Philosophie zu studieren. Sein Lebenslauf folgte der Logik, die für das katholische Milieu schon immer galt. Er übernahm die Privatschule vom Vater. Er ging in die CVP wie schon sein Grossvater. Aber das «Institut Dr. Pfister» musste er irgendwann schliessen. Und die CVP war im Niedergang begriffen. Er war eine Endzeitfigur, sein Milieu war verschwunden, aber er noch da. Pfister hat gerne daran gelitten.
Er ist ein Konservativer, das sieht man schon seinen Hemden an, die gerne mit seinen Initialen bestickt sind. Bei ihm muss das Neue zuerst beweisen, dass es besser ist als das Alte. Selbst als er in seinem späteren Wirken der Mitte-Partei ein neues (und linkes) sozialpolitisches Profil gab, wollte er seine Gründe dafür in der Vergangenheit gefunden haben: Auch der frühere CVP-Präsident Carlo Schmid, eines seiner Vorbilder, sei ein Sozialkonservativer gewesen.
Handke im Bundeshaus
Bereits in seiner früheren Biografie ist aber seine Faszination für das Flexible, für das Wendige zu besichtigen. Seine Doktorarbeit schrieb er über den literarischen Verwandlungskünstler Peter Handke, «einen der wenigen Autoren, die sich ästhetisch und poetologisch immer weiterentwickelt haben, immer neue Formen und Regeln gesucht haben». Das sei extrem spannend, sagte er einmal der «Basler Zeitung». Das gleiche gilt für Pfister im Politischen: In teilweise akrobatischer Wendigkeit hat er sich immer wieder neu erfunden.
Als er gemerkt hatte, dass seine konservative Wertedebatte die Partei weniger anregte als verschreckte, wurde er progressiver. Nicht zum ersten Mal wurde er als Verwandlungskünstler beschrieben: vom Konservativen zum Reformer. Aber Pfister wurde nicht ein Reformer, sondern eher zu einem klassischen CVPler. Er war bereit, seine Überzeugungen aufzugeben, um seine Macht (und die seiner Partei) zu erhalten. Als es einmal um den Namen ging, sagte er den Satz: «Ich habe keine Präferenz – ich will nur den Erfolg.» Es war das kürzestmögliche Selbstporträt.
Umso tragischer hätte Gerhard Pfister geendet, wenn er an jenem 28. November 2020 die Abstimmung über den neuen Parteinamen verloren hätte: als Katholisch-Konservativer, der dafür bestraft wird, dass er sich verleugnet hat.
Die Delegierten seiner Partei folgten ihm aber zu 85 Prozent. Anders gesagt: Sie lieferten sich ihm spätestens an diesem Tag aus. Zwar redete Pfister zunehmend davon, seine Partei brauche endlich Ideen, nachdem sie ihr Milieu verloren habe. Aber die Idee war primär er selbst. Immer wieder eine andere. Pfister war auch ein unberechenbarer Präsident, der die Dinge gerne mit sich selbst (oder höchstens mit seiner Generalsekretärin Gianna Luzio) ausmachte. Selbst hohe Parteikader sollen erst am Vorabend von seinem Rücktritt erfahren haben. Er konnte aufbrausend sein zu seinen Leuten, so, dass sie nachhaltig verschreckt waren – er war ein kaltblütiger Taktierer, ein Mitte-Machiavelli, der die Partei eigenmächtig zu positionieren versuchte.
In den vergangenen neun Jahren schien es manchmal, als lebe die Mitte von Pfister-Interview zu Pfister-Interview. Atemlos müssen seine Leute die Zeitungen aufgeblättert haben: Wofür stehen wir heute?
Und so war klar, als Pfister damals im Ägerital seine Abstimmung gewann: Die Partei bekommt zwar einen neuen Namen, aber ihr Präsident würde der gleiche bleiben – und so auch das Prinzip.
Sozialkonservativ – ein Zauberwort
Vor allem im Bundeshaus, wo die Partei seit Jahrzehnten die Mehrheitsmacht hat, sollte sich schnell zeigen, dass die neue Mitte in vielem ähnlich politisiert wie die alte CVP: irgendwie konservativ, irgendwie kompromissbereit, irgendwie unberechenbar. Ausnahmen bestätigen die Regel. Und ausgerechnet hier – in diesen raren Momenten, in denen die Partei im Bundeshaus eigene Akzente setzte – sind die Spuren des abtretenden Parteipräsidenten am klarsten zu erkennen.
Pfister hat eine Nische ausfindig gemacht, eine scheinbar verheissungsvolle Heimat in der dicht besiedelten Parteienlandschaft der Schweiz, in die er seine Leute führen will: Geht es nach ihm, soll die Mitte zur sozialen Kraft im bürgerlichen Lager werden. «Sozialkonservativ» – das ist seit einiger Zeit sein Zauberwort.
Immer öfter suchte er in den vergangenen Jahren im Bundeshaus die Nähe zu den Linken, die damals, bei seiner Wahl zum Parteipräsidenten, entsetzt die rechte Radikalisierung der CVP heraufbeschworen hatten. Die Skepsis ist verflogen. Man ist sich nähergekommen, menschlich und politisch. Am Tag, an dem er seinen Abgang ankündigte, äusserte Pfister sich auffällig freundlich über die SP-Spitze (das Co-Präsidium funktioniere hervorragend). Zur FDP hingegen pflegt er seit Jahren einen Narzissmus der kleinen Differenz.
In einem Werbevideo der Mitte hiess es im Jahr 2023: «Was muss sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist?» Es war eine Frage, die den neuen sozialkonservativen Geist atmete. Auch in Pfisters Mitte galt der Staat nun als Schutzschirm vor den Zumutungen der Zeit.
Schon frühere Parteipräsidenten hatten der CVP alle denkbaren Etiketten verpasst. Gerhard Pfister beliess es nicht dabei. Nachdem er seine Partei zum «sozialkonservativen Pol» ernannt hatte, fielen im Parlament plötzlich Entscheide, die früher kaum denkbar gewesen wären. Und es ist kein Zufall, dass es dabei um den ersten Teil der neuen Selbstdeklaration ging – das Soziale –, weil der zweite Teil durch die SVP besetzt ist.
Sogar SP-Vertreter konnten nur noch staunen, als die durch ihren Präsidenten angeführte Mitte-Fraktion im Nationalrat vor gut zwei Jahren einen massiven Ausbau der Prämienverbilligungen unterstützte. Das Projekt kam derart teuer heraus, dass manche Mitte-Ständeräte meinten, sie seien in der falschen Partei. Sie legten ihr Veto ein, die Vorlage wurde stark redimensioniert.
Fast gleichzeitig hat im Bundeshaus ein zweites sozialpolitisches Schaulaufen der Mitte stattgefunden: Ihre Parlamentarier verlangten mit identischen Vorstössen eine ausserordentliche AHV-Teuerungszulage für alle Rentnerinnen und Rentner. Dieses Projekt wäre beinahe geglückt.
Immer wieder diese Ständeräte
Die beiden Episoden verraten viel über die real existierende Mitte-Partei unter Gerhard Pfister, wie sie jenseits aller präsidialen Marketingbemühungen die Politik prägt.
Erstens: Sie ist potenziell die einflussreichste Partei im Land. In beiden Kammern des Parlaments kann sie wahlweise gemeinsam mit den Parteien zu ihrer Rechten oder zu ihrer Linken Mehrheiten bilden.
Zweitens: Wie in keiner anderen Partei besteht innerhalb der Mitte ein Graben zwischen Nationalräten und Ständeräten. Darunter litt Pfister oft. Mehr als einmal zeigten ihm die selbstbewussten Ständeherren seine Grenzen auf. Nun will ausgerechnet Pfister, von Haus aus strammer Föderalist, dass die Mitte-Ständeräte sich mehr der Parteiräson unterwerfen. Bei ihnen müsse die Einsicht wachsen, sagt er seit Jahren und wiederholte er auch an diesem Montag, «dass sie ihr Mandat auch der Partei verdanken».
Daraus folgt drittens, dass die Mitte auch unter Gerhard Pfister unberechenbar geblieben ist. Nicht auszudenken, was passiert, wenn die neue Parteispitze beendet, was er begonnen hat: Wenn sie die Reihen schliesst und den «Sonderbund» im Ständerat knackt, ist die Mitte kaum mehr aufzuhalten.
Ausserhalb des Parlaments hat sie die staatstragende Zurückhaltung bereits aufgegeben. Mit ihrer AHV-Initiative verlangt sie einen milliardenschweren Sozialausbau, ohne die Finanzierung zu regeln. Wird das auch die künftige Mitte-Politik im Parlament sein? Wohl selten war die Wahl eines Parteipräsidenten wichtiger als heute – auch deshalb, weil sie bisher derart stark durch ihren Präsidenten geprägt ist. Gerhard Pfister selbst sagte am Montag, die neue Führung müsse «partizipativer» sein. Manche in der Partei werden sich die Augen reiben.
Eine letzte Neuerfindung
Und was wird aus ihm? Nach seinem Rücktritt als Parteipräsident fragt sich, ob er sich noch einmal im Handke’schen Sinn neu erfinden kann – als Bundesrat? Viele rechnen damit, dass die letzte verbliebene Mitte-Bundesrätin Viola Amherd bald zurücktritt – und Pfister sich nun elegant in Position bringt.
Er ist seit Jahren geübt darin, nichts dazu zu sagen. Dass er es sich vorstellen könnte, hat er nie abgestritten. Dass er es möchte, war ihm stets anzusehen. Als Präsident der Mitte war er vor allem in den Coronajahren teilweise fast konsensualer unterwegs als der Bundesrat selbst. Und er hat gelernt, seine Überzeugungen für ein neues Amt aufzugeben. So sehr, dass sich für das Parlament, das ihn zum Bundesrat wählen müsste, inzwischen fragt: Wer ist Gerhard Pfister eigentlich wirklich – die katholisch-konservative Milieufigur, als die er CVP-Präsident geworden ist, oder der flexibel-anpassungsfähige Mitte-Mann, als der er nun zurücktritt? Ob der 6. Januar 2025 der Tag ist, an dem er die grosse Bühne langsam verlässt, ist unklar. Seine unzähligen Facetten könnten ihn noch weiter nach oben tragen, oder eben gerade nicht.
Auch das gehört zum Schicksal eines Verwandlungskünstlers.