Der frühere Skistar Felix Neureuther ist heute eine der prägnantesten Stimmen der Szene. Er sagt, Marco Odermatt sei ein mentales Monster und sehr wichtig für seinen Sport. Diesen will Neureuther mit einem ganzheitlichen Ansatz verändern.
Marco Odermatt fährt derzeit fast in einer eigenen Liga. Was hebt ihn von den anderen Fahrern ab?
Das versuchen gerade alle zu analysieren. Aber das, was ihn abhebt, kannst du nicht erlernen. Das ist gottgegeben. Dieses intuitive Skifahren. Dass er sich nicht über Dinge Gedanken machen muss wie andere, sondern es von selbst passiert, das macht ihn so unfassbar gut. Dazu ist das Material perfekt auf seine Hebel und seinen Fahrstil abgestimmt. Wenn man die Grössen der Vergangenheit anschaut, einen Marcel Hirscher, einen Hermann Maier, einen Alberto Tomba, dann waren die auch vom Material her ihrer Zeit voraus, nicht nur körperlich und skifahrerisch. Bei Odermatt passt alles perfekt zusammen. Er riskiert auch sehr viel, aber es sieht so einfach aus. Das ist die grosse Kunst.
Hat Odermatt mit 26 Jahren seinen Zenit bereits erreicht, oder kann er noch besser werden?
Es gibt immer Schwünge, die du optimieren kannst, Techniken entwickeln sich weiter. Aber er ist auch mental ein Monster. Wie locker er mit der Öffentlichkeit umgeht, wie nahbar er ist. Ein ganz normaler Mensch, der auf den Ski aber Unmenschliches vollbringt. Diese Mischung ist unschlagbar und ganz, ganz wichtig für den Skisport.
Wichtig inwiefern? Ein Athlet, der so dominiert, kann das Geschehen auch langweilig machen.
Natürlich wäre es besser, wenn es einen Zweikampf gäbe. Marco Schwarz hat es diesen Winter probiert und sensationell hinbekommen bis zur Verletzung. Dass von den grossen vier nun drei verletzt sind, tut dem Skisport sehr weh. Aber Odermatts Leistung ist wichtig, weil die andern nachziehen wollen und das Niveau damit angehoben wird. So wie ich früher versucht habe, an Hirschers Niveau heranzukommen.
Wie geht das konkret?
Du arbeitest mehr, bist noch professioneller, probierst noch mehr beim Material, versuchst, deinen Körper auf Vordermann zu bekommen, auf den Ski Dinge so ähnlich zu machen wie Odermatt. Wie schnell der mit dem Schwung fertig ist und so eine direkte Linie fährt. Wie wahnsinnig früh er das Innenbein am Schwungende nach innen nimmt. In Adelboden haben wir versucht, seinen Schwung zu analysieren, und da kam raus: Das kann nur er, für alle anderen ist das ungesund.
Dieses Jahr wäre für Kitzbühel eine Team-Kombination geplant gewesen. Es ist die jüngste Idee, um neues Publikum anzulocken, nachdem die Parallelrennen gescheitert sind. Was halten Sie von diesem Format?
Für mich ist eine Frage wichtig: Was hat den Skisport gross gemacht? In den siebziger, achtziger Jahren, als er extrem boomte und die Athleten nicht nur skifahrerisch Vorbilder für die Menschen waren, sondern gesamtgesellschaftlich, sogar modetechnisch. Das waren Vorreiter damals. Ikonen, aus denen Schauspieler oder Musiker geworden sind, weil sie so eine wahnsinnige Bekanntheit hatten.
Und was wurde damals gemacht?
Damals war der Skisport leicht zu verstehen. Es gab die drei Disziplinen Abfahrt, Riesenslalom, Slalom. Bei manchen Rennen verstehen die Zuschauer nicht, ob das ein Super-G ist oder eine Abfahrt. Dann wurde die Kombination als eigene Disziplin eingeführt, dann der Parallelwettbewerb. Der wurde 25-mal verändert, bis das Format keiner mehr verstanden hat. Der Kalender war so vollgepackt mit Disziplinen, in denen sich der Zuschauer gar nicht mehr auskannte. Ich glaube, man kann den Skisport wieder einfacher darstellen.
Zurück zu den Hauptdisziplinen also?
Adelboden, Wengen, Kitzbühel, Schladming sind die absoluten Highlights, die die Menschen sehen wollen und verstehen. Wir brauchen diese Heroen, diese Vorbilder, die du oft im Fernsehen siehst. Neben Odermatt fahren nicht mehr viele drei Disziplinen, der Kalender ist zu überfrachtet. Die Athleten haben heute gar nicht mehr Zeit, sich vernünftig vorzubereiten, weil es Schlag auf Schlag geht. Ich wünschte mir mehr Allrounder zurück. Wenn wir die Zahl der Rennen reduzieren und Highlights setzen würden, würde das die Sichtbarkeit erhöhen und eine stärkere Identifikation mit den Athleten ermöglichen.
Was sich gegenüber früher allerdings geändert hat, ist das Sport-Konsumverhalten. Die Jungen wollen alles schneller und kürzer.
Wenn wir die Jungen erreichen wollen, müssen wir den Skisport schneller und aktueller über die sozialen Netzwerke verbreiten. Wenn im Rennen etwas passiert, muss dieser Clip wenige Sekunden später auf Social Media sein. Wie bei der PGA: Wenn Tiger Woods abschlägt, ist das sofort auf der PGA-Instagram-Seite. Die Jungen sehen das und stellen den Fernseher an. Das passiert bei uns alles viel zu langsam, ist viel zu weit weg.
Den Kalender entflechten, das gelänge auch mit Hubs: einen Rennblock in der Schweiz, einen in Frankreich, dazwischen Pause.
Den Januar darfst du nicht verändern, denn der ist mit Adelboden, Wengen, Kitzbühel und Schladming im gesamten Wintersport unschlagbar. Wichtig ist beim Programm, dass man zuerst auf die Athletinnen und Athleten und deren Gesundheit achtet. Dass man den Kalender so gestaltet, dass er auch reisetechnisch Sinn ergibt. Es geht um den ganzen Tross, die Trainer, die Serviceleute. Das Material muss ja transportiert werden. Das ist für die Betroffenen ein riesiger Stress und teilweise unverantwortlich. Wenn du dort vernünftige Strukturen schaffst, schlägst du mehrere Fliegen mit einer Klappe: Dann kannst du auch die zwingende Verantwortung beim Thema Nachhaltigkeit beweisen. Und der Öffentlichkeit zeigen: Seht, wir haben verstanden. Denn Unternehmen machen sich schon ihre Gedanken, ob der alpine Skisport das richtige Umfeld für ein Sponsoring ist.
So dass der Skisport am Ende gar nicht unter der Reduktion der Rennen leidet?
Highlights kann man nicht überall schaffen. Aber die Frage ist: Wie gross ist das Interesse am Skisport Ende Oktober oder im November? Ist es bei der heutigen Klimasituation wirklich so wichtig für die Industrie, mit dem Weltcup so früh zu starten? Ötztal-Tourismus sieht das übrigens durchaus ähnlich. Die Skitouristen wollen heute im Herbst nicht mehr auf dem Gletscher Ski fahren, weil die Schneebedingungen kein schönes Skigefühl mehr erzeugen.
Aber für die Industrie, die Ski verkaufen möchte, sind die Rennen kurz vor Saisonstart immer noch wichtig – solange es am TV nach Winter aussieht.
Die Ski-Industrie muss sich auch anpassen, der Tourismus allgemein. Der Winter verändert sich, er kommt später und geht mehr in den April hinein. Wie schaffen wir es also, dass das Interesse für den Skisport bis Anfang April gross bleibt? Das könnte gelingen, wenn man dann in Zermatt/Cervinia den neuen Abfahrtsklassiker installieren und damit die Rennsaison vor gigantischer Kulisse beenden würde. Zusätzlich wäre Schnee- und auch Wettersicherheit garantiert, die Planbarkeit grösser. Man kann sicher nicht nur von Dezember bis Februar Rennen fahren.
Felix Neureuther
Der 39-jährige Deutsche ist der Sohn der Skigrössen Christian Neureuther und Rosi Mittermaier. Nach dreizehn Siegen im Weltcup und drei WM-Medaillen ist der Slalomspezialist vor vier Jahren zurückgetreten. Seither ist er TV-Experte bei der ARD. Daneben setzt er sich mit seinem Programm «Beweg dich schlau!» für mehr Bewegung bei Kindern ein und hat unter anderem das Buch «Das Erbe der Alpen» geschrieben, in dem er beleuchtet, welche Probleme die Alpen belasten und welche Lösungen es dafür gäbe. Neureuther ist mit der ehemaligen Biathletin Miriam Gössner verheiratet und hat mit ihr drei Kinder.
Der Gletscher ist auch fürs Training ein Thema. Man könnte auf das Gletschertraining im Sommer verzichten.
Damit man die Breite und den Renn-Nachwuchs nicht verliert, muss man den Aufwand verringern. Das ist der eine Aspekt. Leider ist es fast zu aufwendig und zu kostenintensiv, Skirennfahrer zu werden. Wir brauchen mehr Chancengleichheit, diese Fairytale-Geschichten: Hermann Maier, vom Maurer zum Olympiasieger. Meine Mutter, von der Winklmoosalm zur Olympiasiegerin. Ich glaube, dass es solche Geschichten in der heutigen Zeit nicht mehr geben kann, weil der Sport viel zu kostenintensiv geworden ist. Und die Professionalisierung zu weit vorangeschritten ist. Heute trainiert ein Zehnjähriger vom Umfang und Aufwand her so wie vor fünfzehn, zwanzig Jahren ein Sechzehnjähriger. Das machen viele Eltern nicht mehr mit. Kinder sollen im Sommer andere Sportarten machen, in den See hüpfen, Fussball spielen, im Wald herumtollen. Und nicht auf Gletschern Ski fahren.
Der andere Aspekt ist die Umwelt.
Ohne Gletschertraining hättest du auch ein Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Weil du CO2 einsparst. Es ist relativ simpel. Manchmal heisst es aus der Skiblase: «Der Neureuther will den Skisport zerstören. Der macht einen auf Umweltaktivist.» Das stimmt nicht, und das will ich explizit sagen: Ich mache mir nur Gedanken, was man für den Skisport tun kann, damit der in zwanzig oder dreissig Jahren auch noch interessant ist. Damit die Gesellschaft noch vom Sport profitieren kann. Und da muss man definitiv Änderungen anpacken. Dem Skisport würde es nicht nur guttun, sich anzupassen, er könnte vielmehr zum Vorreiter für nachhaltiges Verstehen werden. Weil er eben so angreifbar ist.
Er scheint nicht mehr zeitgemäss.
Es ist traurig, dass der Skisport der absolute Buhmann ist, was die Umweltverträglichkeit anbelangt, das tut sehr weh. Weil es so definitiv nicht der Fall ist. Der Skisport ist für unsere gesamte alpenländische Gesellschaft etwas Elementares. Daran hängen viele Existenzen, er ist ein Teil unserer Kultur. Er bringt die Menschen zu Bewegung und macht Freude, und diese darfst du ihnen nicht nehmen, das hat man während Corona gesehen. Die Frage ist nur: Wie und in welcher Form kann ich ihn noch begründen?
Sie haben sich für ein Buch mit der Zukunft des Winters in den Alpen beschäftigt. Haben Sie denn Hoffnung für den Skisport?
Ja, die habe ich. Es passiert in den Skiorten doch sehr viel. Wie sie Energie generieren, welche Treibstoffe verwendet werden, wie viel weniger Wasser die neusten Schneekanonen brauchen. Dass überhaupt weniger Energie zum Betrieb eines Skigebietes benötigt wird. Ich habe mich mit dem Klimapapst und Friedensnobelpreisträger Georg Kaser unterhalten, er hat mir gesagt, Skifahren sei nicht so klimaschädlich; das Problem sei die An- und Abreise. Dort braucht man Konzepte, dass man in den Regionen die Infrastruktur richtig ausbaut und anpasst.
Wie zum Beispiel?
Wenn München / Garmisch-Partenkirchen die Olympischen Spiele 2018 bekommen hätten, wäre eine Zugverbindung vom Münchner Hauptbahnhof nach Garmisch gebaut worden, mit der die Fahrt nur 40 Minuten gedauert hätte (statt rund 90, Anm.). Nun ist die Idee im Stapel nach unten gewandert. Der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel müsste oberste Priorität haben. Das kostet viel Geld und müsste daher auch politisch unterstützt werden.
Ihr Urururgrossvater war Glaziologe und forschte unter anderem im Himalaja. Wann hat sich bei Ihnen das Bewusstsein entwickelt, dass sich das Klima menschengemacht verändert?
Wenn du in den Bergen aufwächst, hast du automatisch eine spezielle Verbindung zur Natur. Als ich in den Weltcup kam, war das der Wahnsinn, ich habe meinen Traum gelebt. Aber wenn du länger in diesem Zirkus unterwegs bist, merkst du, wo die Schwachstellen sind. Am deutlichsten habe ich die Klimaerwärmung an den Gletschern wahrgenommen, weil sie sich am extremsten verändern. Da beginnst du dir Gedanken zu machen. Vor allem, wenn man eigene Kinder und die nächsten Generationen im Fokus hat.
Wie behandeln Sie das Thema mit Ihren Kindern?
Sobald man mit den Kindern viel draussen ist, passiert in ihrer Wahrnehmung sehr viel von selbst. Wenn unsere sechsjährige Tochter etwa Müll auf der Strasse sieht, hebt sie den auf und entsorgt ihn. Wir haben ihr erklärt, wie lange es dauert, bis ein Plastikteil verrottet, und das machte etwas mit ihr. Doch es muss bildungstechnisch mehr passieren. Die kreativen Fächer wie Sport, Kunst, Musik haben den geringsten Stellenwert. Wenn ich Sport fördere, gehen die Kinder automatisch raus und bauen eine ganz andere Verbindung zur Natur auf. Das Thema Natur und Umwelt sollte viel mehr Teil unseres Schulsystems sein.
Zurück zum Profisport. Wie sieht es im Weltcup aus, wenn Sie sich für diese Themen starkmachen?
Ich glaube schon, dass sich jeder seine Gedanken macht, was er beim Thema CO2-Ausstoss beitragen kann. Auf wirtschaftlicher Seite besonders auch die Unternehmen. Wenn man aber vom Skisport lebt und jemand kommt und will Dinge stark verändern, hat man Angst, den Job zu verlieren. Das ist für mich nachvollziehbar. Aber nur durch Diskussionen und Akzeptieren anderer Meinungen schaffen wir Veränderungen. Ich rede mit den Verantwortlichen der Verbände, der Skiindustrie, dem Tourismus und ecke sicher auch an. Aber vielleicht können wir dadurch ein Umdenken anregen? Und den Internationalen Skiverband dazu bewegen, sich an die veränderten Zeiten anzupassen und somit den Skisport attraktiv zu halten.
Wie einfach ist es, mit dem Weltverband ins Gespräch zu kommen?
Mit der Spitze des Internationalen Skiverbandes ist das nicht so einfach. Du kannst dort keine wirklichen Diskussionen anstossen. Das ist eher eine One-Man-Show, und das ist sehr schade. Ich würde mir dort mehr Mitspracherecht wünschen, denn es gibt gerade an der Basis so viele gute Fachleute und Experten, die das gleiche Interesse am Sport wie die Athleten haben. Leider können sie sich nicht durchsetzen.
Der FIS-Präsident Johan Eliasch hätte den Skisport lieber noch globaler, bei seinem Antritt hat er über Skihallen-Rennen in Dubai gesprochen.
Ich glaube nicht, dass er das ernst gemeint hat. Das kann und will ich mir nicht vorstellen. Wir erleben gerade, wie negativ Autokratien die Welt verändern. Dieses Phänomen sehen wir auch in den grossen Sportverbänden. Ich hoffe, dass die FIS davon verschont bleibt, sonst verlieren wir viel von der Einzigartigkeit unseres Sports.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»