Der Fall eines inhaftierten Marokkaners zeigt, mit welchen Problemen das Staatssekretariat für Migration bei Ausschaffungen zu kämpfen hat. Auch Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg machen der Schweiz die Arbeit nicht einfacher.
Im Gürbetal geht die Angst um. Diebe und «Fälleler» seien unterwegs und würden sich in Häuser einschleichen oder aus unverschlossenen Autos Gegenstände stehlen, hiess es dieser Tage in den Tamedia-Zeitungen aus Bern. Dabei handle es sich meist um junge Männer aus den Maghrebstaaten, also Marokko, Algerien und Tunesien. «Nicht nur Gürbetal – diese #Kriminellen/#Intensivtäter/#Asylsuchenden aus Maghreb muss man viel einfacher und länger in Ausschaffungshaft nehmen können», forderte der für Sicherheit zuständige Berner FDP-Regierungsrat Philippe Müller auf X.
Selbst die Berner Reitschule scheint ratlos. Sie hat ihren Betrieb für zwei Wochen eingestellt, dies wegen Gewaltproblemen mit Nordafrikanern, die sich auf dem Gelände breitgemacht haben. Tiefpunkt war eine Auseinandersetzung Ende Dezember, bei der einem Mann ein Finger abgehackt wurde. Der mutmassliche Täter ist ein Algerier, der später an einer Bushaltestelle in Bern – samt einer Machete – verhaftet wurde.
«Sehr gute Zusammenarbeit» – wirklich?
Aufgrund dieser Entwicklung wird die Frage drängender, wie die Schweiz die ungebetenen Gäste aus den Maghrebstaaten loswird. Mit Algerien hat die Schweiz ein Rückübernahmeabkommen, und mit Tunesien gibt es ebenfalls eine entsprechende Vereinbarung. Mit Marokko dagegen fehlen bis anhin formalisierte Instrumente, um die Rückführung von Personen durchzusetzen, die in der Schweiz kein Aufenthaltsrecht haben.
Im letzten Dezember überwies das Parlament eine Motion des Luzerner FDP-Ständerats Damian Müller, die den Bundesrat bzw. das Staatssekretariat für Migration (SEM) auffordert, unverzüglich Verhandlungen über ein Rückübernahmeabkommen mit Marokko aufzunehmen – dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund «des massiven Anstiegs der Asylgesuche von marokkanischen Staatsangehörigen». Gab es im Jahr 2022 526 Gesuche aus Marokko, stieg die Zahl 2023 auf über 1600 Gesuche an – ohne dass die Personen Aussicht auf Erfolg hätten. Praktisch alle Asylgesuche von Maghrebinern werden abgewiesen.
Im Jahr 2023 wurden laut dem SEM insgesamt 86 Personen nach Marokko ausgeschafft, wobei es sich bei 50 dieser Fälle um Zwangsrückführungen handelte. Von Januar bis Ende November 2024 wurden 97 Marokkaner zurückgeführt, 76 von ihnen mit Zwang. Man arbeite mit Marokko «sehr gut» zusammen, sagt das SEM. Ein neues Urteil des Bundesgerichts, bei dem es um einen marokkanischen Ausschaffungshäftling geht, lässt daran allerdings gewisse Zweifel aufkommen.
Der betreffende Marokkaner sitzt seit Juni 2024 in Ausschaffungshaft. Der Mann hatte 2010 erfolglos ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt und hätte das Land verlassen müssen. Einen Monat nach dem Wegweisungsbescheid heiratete er eine Schweizerin und erhielt gestützt auf die Ehe eine Aufenthaltsbewilligung. 2014 wurde er wegen Vergewaltigung verhaftet und später vom Berner Obergericht zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach dem Vollzug gelangte er zuerst in Sicherheitshaft und anschliessend in Ausschaffungshaft.
Zuerst erklärte sich der Mann einverstanden, freiwillig aus der Schweiz auszureisen. Später kam er auf seinen Entscheid zurück und erklärte eine Rückkehr für ausgeschlossen. Im September 2024 reichte der bernische Migrationsdienst beim SEM eine Fluganmeldung für die zwangsweise Rückführung nach Marokko ein.
Das SEM gelangte allerdings zur Auffassung, dass der Mann auf dem Flug durch einen Arzt begleitet werden müsste, dies wegen seiner Sozialisationsdefizite und Bindungsstörungen. Auch sei er mutmasslich depressiv und habe zwei Herzinfarkte erlitten. In der Folge wurde die Ausschaffung abgesagt. Der Grund: Seit mehr als einem Jahr stellen die marokkanischen Behörden keine Laissez-passer mehr aus für Staatsangehörige, die beim Ausschaffungsflug medizinisch begleitet werden müssen.
Aus Schweizer Sicht ist das natürlich wenig glücklich. Das SEM ist in dieser Sache denn auch nicht untätig geblieben. 2024 fanden zahlreiche Treffen zwischen dem Migrationsamt und den marokkanischen Behörden statt. Auf «technischem Niveau» wurde ein Lösungsweg für diese Art von Rückführungen erarbeitet. Das SEM legte dem marokkanischen Delegationsleiter im November 2024 nahe, die erarbeitete Lösung nun umzusetzen und die Ausschaffungen zu ermöglichen.
Doch Marokko hat es offenkundig nicht eilig. Die Behörden haben noch kein grünes Licht gegeben, die medizinisch begleiteten Rückführungen sind weiterhin blockiert. Zurzeit geht es um vier Fälle. Vor dem Hintergrund, dass die Schweiz Marokko finanziell unterstützt – im Jahr 2023 wurden mehr als 5,2 Millionen Franken an den Maghrebstaat ausgerichtet –, ist diese Blockadehaltung wenig befriedigend.
Der EuGH relativiert die Ausschaffungshaft
Was soll die Schweiz also konkret mit dem Marokkaner machen, der in Ausschaffungshaft sitzt? Der das Land verlassen müsste, nicht freiwillig geht und von seinem Heimatland nicht zurückgenommen wird?
Ausschaffungshäftlinge können sechs Monate inhaftiert werden. Kooperieren sie nicht mit den Behörden, so kann die Haft auf maximal achtzehn Monate verlängert werden. Die Schweiz hat sich hier den Vorgaben der EU angepasst. Die achtzehn Monate sind allerdings nicht fix: Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) hat die Länge der Ausschaffungshaft relativiert. Ein Angehöriger aus einem Drittstaat (wie Marokko) ist laut dem EuGH unverzüglich aus der ausländerrechtlichen Haft freizulassen, wenn sich herausstellt, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung besteht.
Stellt sich ein Drittstaat also quer und nimmt er seine Landsleute nicht zurück, dann muss die Ausschaffungshaft wohl als unrechtmässig angesehen werden. Die Schweiz hält sich an diese Rechtsprechung des EuGH. Im Fall des Marokkaners befand das Bundesgericht, dass noch eine gewisse Aussicht auf den Vollzug der Wegweisung bestehe und der Betreffende deshalb vorläufig noch in Haft bleiben dürfe. Doch wenn Marokko nicht bald einlenkt, wird der Mann entlassen werden müssen.
Die Forderung des Berner Sicherheitsdirektors Philippe Müller, dass die Schweiz für die «#Kriminellen/#Intensivtäter/#Asylsuchenden aus Maghreb» einfach die Ausschaffungshaft verlängern soll, dürfte damit in der Realität meist ein frommer Wunsch bleiben.