Die nordkoreanischen Soldaten an der Kursk-Front sind mit moderner Kriegsführung wenig vertraut. Ihre Schwächen machen sie mit fanatischem Kampfwillen wett – bis hin zum Selbstmord.
Als die Gefangennahme durch ukrainische Truppen unvermeidlich erschien, soll ein nordkoreanischer Soldat «Kim Jong Un», den Namen des Diktators, gebrüllt haben. Dann zog er eine Handgranate aus der Tasche und wollte sich selber in die Luft sprengen. Bevor es dazu kam, wurde er bei einem Schusswechsel getötet. So schilderte Lee Seong Kweun, Mitglied des südkoreanischen Geheimdienstausschusses, einen Vorfall, der sich in der russischen Region Kursk zugetragen haben soll.
Obwohl der Bericht aus ukrainischen Militärquellen nicht verifiziert werden kann, klingt er plausibel. Nordkoreanische Kommandanten bleuen ihren Untergebenen ein, sich vor einer drohenden Festnahme selber zu töten. Das bestätigen frühere Militärdienstleistende, denen die riskante Flucht nach Südkorea gelungen ist. «Spare die letzte Kugel», heisst es in einem Propaganda-Song des Regimes.
Tatsächlich ziehen Soldaten an der Kursk-Front offenbar den Tod einer Gefangennahme vor – in ihrer Heimat eine Schmach. Verwundete, die Gefahr liefen, in die Hände des Feindes zu geraten, würden auch von ihren eigenen Kameraden erschossen, zitiert das «Wall Street Journal» ukrainische Militärangehörige.
Mosaiksteine einer verschleierten Operation
Laut Geheimdienstquellen in Seoul und Washington hat Nordkorea seinem Verbündeten Russland seit Oktober zwischen 10 000 und 12 000 Soldaten bereitgestellt. Hoben sie zunächst Schützengräben aus und leisteten logistische Unterstützung, führen sie seit Mitte Dezember auch Sturmangriffe an der Kursk-Front aus. Die Ukraine hat die Russen dort im vergangenen Sommer mit einer Überraschungsoffensive überrumpelt, seither aber mehr als die Hälfte des Terrains verloren.
Südkoreas Geheimdienst NIS geht davon aus, dass bereits über 300 Nordkoreaner gefallen sind, 2700 sollen verwundet worden sein. Laut John Kirby, dem Sprecher für Sicherheitspolitik im Weissen Haus, wurden allein in der letzten Dezemberwoche tausend Soldaten getötet oder verwundet. Diese Schätzungen muten eher hoch an, zumal nur ein Teil der Nordkoreaner an der Front kämpft.
Am vergangenen Wochenende verbreitete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ein Video, das erstmals zwei nordkoreanische Gefangene zeigt. Einer gab bei einer Befragung durch einen südkoreanischen Übersetzer an, nichts von einem Kriegseinsatz gewusst zu haben. Er habe seine Reise nach Russland im Glauben angetreten, an einer militärischen Weiterbildung teilzunehmen.
Verkleidet und mit falschen Ausweisen
Die verschiedenen Berichte sind Mosaiksteine einer Operation, die Russland und Nordkorea weder bestätigen noch dementieren. Inzwischen bestehen aber kaum Zweifel, dass Kim Jong Un dem russischen Machthaber Wladimir Putin Tausende Soldaten ausgeliehen hat. Die einstigen kommunistischen Bruderstaaten unterzeichneten 2024 einen militärischen Beistandspakt. Gleichwohl greift Moskau zu einer Verschleierungstaktik. Die nordkoreanischen Truppen tragen Uniformen der russischen Armee.
Exclusive – Newly obtained footage from Russia’s Sergievsky Training Ground showing North Korean troops being outfitted in Russian gear in preparation for deployment to Ukraine. pic.twitter.com/01Z4jZIiOe
— SPRAVDI — Stratcom Centre (@StratcomCentre) October 18, 2024
Viele erhalten zudem falsche Papiere, die sie zum Beispiel als Bürger der südsibirischen Region Tuwa nahe der Grenze zur Mongolei ausweisen.
Mehr als «Kanonenfutter»
Gemäss Analysen westlicher Nachrichtendienste schickte Kim Angehörige des sogenannten Sturmkorps. Diese verstehen sich als Eliteeinheiten, die bei einem Angriff auf Südkorea für Spezialoperationen hinter den feindlichen Linien eingesetzt würden. Auf einen Abnützungskrieg wie in Kursk seien sie nicht vorbereitet, sagte Joost Oliemans, ein Experte für Nordkoreas Militär, dem Nachrichtenportal NK News.
Erschwerend kommt hinzu, dass Kims Sturmtruppen mit den Anforderungen des modernen Drohnenkriegs kaum vertraut sind. Ukrainer erzählen von Einheiten, die ungeschützt über verschneite Felder rennen und sich dadurch leicht zu Zielen machen. Einige erhielten weder gepanzerte Fahrzeuge noch Artillerieunterstützung. Allem Anschein nach setzen russische Kommandanten die Nordkoreaner bewusst als Köder ein. Geraten sie danach wie erwartet unter Beschuss, gewinnen die Russen Erkenntnisse über die ukrainischen Positionen.
Solche Schilderungen deuten darauf hin, dass Putins Generäle die Nordkoreaner als Kanonenfutter verheizen. Falsch wäre indes, die Bedeutung der nordkoreanischen Einheiten zu unterschätzen, zumal sie aus taktischen Fehlern lernen.
Aufzeichnungen eines Gefallenen
Ukrainische Spezialeinheiten fanden bei einem gefallenen Nordkoreaner ein Notizbuch. In koreanischer Schrift und mit einer rudimentären Skizze ergänzt, schrieb er auf, wie Drohnen zu eliminieren sind: Ein Soldat solle stehen bleiben und dadurch das Fluggerät anlocken. Zwei andere müssten danach das Feuer eröffnen und die Drohne abschiessen. Mit solchen kruden Taktiken wird offenkundig eine hohe Opferzahl in Kauf genommen.
Diary of KIA North Korean soldier in Kursk Oblast. Part 2 «Live bait”
Ukrainian SOF operators eliminated a North Korean soldier in russia’s Kursk region, discovering his diary. The entries reveal that North Korea sent elite troops to support russia, not ordinary soldiers. 1/9 pic.twitter.com/J3DsLIcv0J
— SPECIAL OPERATIONS FORCES OF UKRAINE (@SOF_UKR) December 26, 2024
Der gefallene Soldat trug einen Pass mit dem Namen Jong Kyong Hong auf sich. Weitere Aufzeichnungen beinhalten euphorische Lobpreisungen für Kim Jong Un. Der später getötete Jong bezeichnet sich als Mitglied nordkoreanischer Spezialeinheiten. Ehemalige Armeeangehörige halten die aufgefundenen Dokumente wegen ihres Inhalts und sprachlicher Eigenheiten für authentisch.
Vorbereitungen für weitere Truppenentsendungen
Der hohe Blutzoll dürfte den Einsatzwillen der Nordkoreaner kaum schwächen. Ihre Stärken sind eiserne Disziplin und eine hohe Risikobereitschaft. Die unerbittliche Indoktrination in dem totalitären Staat hinterlässt deutliche Spuren. Nordkoreanische Soldaten stellen keine Fragen. Sie führen auch Befehle für selbstmörderische Aktionen aus.
Der ukrainische Präsident warnte mehrmals vor zusätzlichen Truppenentsendungen Kims. Die Welt sehe der «kriminellen Kooperation» zwischen Moskau und Pjongjang praktisch tatenlos zu, sagte Selenski. Südkoreas Nachrichtendienst will Hinweise haben, wonach Nordkorea neue Kontingente für eine Verschiebung nach Europa vorbereitet.
Kim Jong Un kann zweifellos auf ein grosses Reservoir an Soldaten zurückgreifen – und er hat starke Anreize, das auch zu tun: Jeder, der lebend aus diesem fernen Krieg zurückkehrt, bringt wertvolle Kampferfahrung mit. Und je stärker er Putin unter die Arme greift, desto mehr kann Kim auf seinen Wunschzettel schreiben. Neben Energieträgern und Lebensmitteln hat es der Despot auch auf russische Militärtechnologie abgesehen.
Selbst wenn Tausende von Särgen mit jungen Soldaten in Pjongjang ausgeladen werden sollten: Das nordkoreanische Regime gerät deswegen nicht ins Wanken. Es verfügt über eine nahezu absolute Informationskontrolle. Sollte Kim den Kriegsdienst dereinst öffentlich machen, würde er die Toten wohl als Märtyrer ehren, die im heldenhaften Kampf gegen den imperialistischen Westen ihr Leben liessen.