Im südlichen Donbass hat die Ukraine eine schmerzhafte Niederlage erlitten. Ihr Truppen müssen sich nach drei Jahren Kampf aus Welika Nowosilka zurückziehen – unter schweren Verlusten. Kritiker werfen dem Oberkommando katastrophale Fehler vor.
Die militärische Lage im Osten der Ukraine hat sich in den letzten Tagen dramatisch zugespitzt. An verschiedenen Frontabschnitten sind die Verteidigungslinien eingebrochen. Am meisten Aufmerksamkeit erhält die Hauptfront bei Pokrowsk, wo die russischen Truppen diese Woche rasche Geländegewinne erzielten und die Stadt nun auch von Westen her bedrohen. Damit kommen sie ihrem Ziel, Pokrowsk vom Nachschub abzuschneiden, immer näher.
Im Schatten dieser Ereignisse sind aber auch andernorts militärische Vorentscheidungen gefallen. Die Kleinstadt Tschasiw Jar, die in den vergangenen beiden Jahren allen russischen Offensiven standgehalten hatte, befindet sich nun zur Hälfte in feindlicher Hand. Die Russen rückten diese Woche rasch ins Zentrum vor. Das Schicksal dieser aus geografischen Gründen militärisch wichtigen Stadt scheint damit besiegelt – ohnehin besteht sie seit längerem fast nur noch aus Ruinen.
Ukrainische Truppen in der Falle
Noch schneller dürfte 110 Kilometer südwestlich ein anderes wichtiges Städtchen fallen, Welika Nowosilka. Zwar ist es in der westlichen Öffentlichkeit weniger bekannt, aber es war drei Jahre lang ein bedeutender Teil der ukrainischen Verteidigungslinien und ein Bollwerk gegen ein weiteres russisches Vordringen im südlichen Donbass. Nachdem sich die Truppen Moskaus in den letzten Monaten diesem Bezirkshauptort stetig genähert hatten, konnten sie ihn ab vergangener Woche von drei Seiten her in die Zange nehmen. Am Wochenende fiel der lokale Kleinflughafen in russische Hand, danach begann der Sturm der zentralen Wohnviertel. Die ukrainischen Verteidiger sind offenbar von jeglichem Nachschub abgeschnitten.
Welika Nowosilka liegt eingebettet zwischen drei Flüsschen. Für die Verteidigung ist dies zwar günstig, wird für die Ukrainer nun aber zu einer Falle. Einst führte hier eine Verbindungsstrasse zwischen den Provinzhauptstädten Donezk und Saporischja durch; sie kreuzte sich mit einer weiteren Route in Nord-Süd-Richtung. Nun sind die Verbindungen in alle vier Richtungen unter russischer Kontrolle. Die restlichen ukrainischen Verteidiger können nur noch hoffen, sich zu Fuss durchs Feld und auf behelfsmässigen Fähren über den Fluss Mokri Jali in Sicherheit zu bringen. Schweres Kriegsmaterial müssen sie zurücklassen. Glaubt man Kreml-treuen russischen Militärberichterstattern, so ist der ukrainische Abzug unorganisiert und mit hohen Verlusten verbunden. Der Widerstand daure jedoch an.
Versuche, den eingeschlossenen Truppen zu Hilfe zu kommen und ihnen eine Rückzugsroute zu öffnen, sind offenbar gescheitert. Davon zeugt unter anderem das Video eines zerstörten Panzerfahrzeugs im Umland, das russische Drohnenpiloten in Brand schossen. Das jetzige Szenario erinnert an die verlustreichen Rückzugsschlachten bei Awdijiwka vor einem Jahr und bei Wuhledar im Oktober. In beiden Fällen wartete das Oberkommando in aussichtsloser Lage zu lange zu und ordnete den Rückzug zu spät an.
Entsprechend gross ist unter manchen Ukrainern die Empörung darüber, dass Kiew scheinbar nichts gelernt hat. Juri Butusow, der wegen der Aufdeckung mehrerer Militärskandale wohl einflussreichste ukrainische Frontbeobachter, spricht von absurden Fehlern. Er zielt mit seiner Kritik direkt auf den Oberbefehlshaber, Olexander Sirski, und den für den Donbass zuständigen General, Olexander Tarnawski.
Unabhängig von individuellen Verantwortungen bleibt es eine Tatsache, dass Russlands Truppen derzeit zahlenmässig und punkto Ausrüstung klar im Vorteil sind. Nach dem absehbaren Fall von Tschasiw Jar und Welika Nowosilka werden sie ihre Übermacht vermutlich noch deutlicher als bisher in Geländegewinne ummünzen können. Nördlich von Welika Nowosilka gibt es nur wenige topografische Hindernisse. Die Russen werden voraussichtlich versuchen, durch das Tal des Mokri Jali nach Norden vorzustossen und die Grenze zwischen Provinzen Donezk und Dnipro zu erreichen. Bis dorthin sind es noch zwanzig Kilometer.
Die untenstehende Karte verdeutlicht, wie rasch die Kreml-Truppen allein seit vergangenem Oktober in dieser Region vorgerückt sind. Der Reihe nach fielen die Bastionen Wuhledar, Kurachowe und nun Welika Nowosilka.
Die vollständige Kontrolle über die Provinz Donezk zählt zu den Minimalzielen des Kremls. Im Süden dieser Provinz ist es in Griffweite gerückt. Eine offene Frage ist, ob die Russen von Welika Nowosilka aus erstmals auf Gebiet der Provinz Dnipro vorstossen werden. Es wäre ein Beleg für noch viel weiterreichende Kriegsziele.
Schauplatz der gescheiterten Gegenoffensive von 2023
Es ist für die Ukraine eine bittere Ironie der Geschichte, dass mit Welika Nowosilka noch vor anderthalb Jahren ganz andere, viel hoffnungsvollere Szenarien verbunden waren. Diese Ortschaft war im Sommer 2023 einer von drei Ausgangspunkten der grossen ukrainischen Gegenoffensive, bei der erstmals westliche Kampfpanzer zum Einsatz kamen. Neu aufgestellte ukrainische Kampfbrigaden stiessen von Welika Nowosilka durch das Tal des Mokri Jali nach Süden vor und eroberten ein halbes Dutzend Dörfer. Aber nach rund zehn Kilometern blieben die Truppen stecken, wie auch auf den anderen beiden Angriffsachsen. Die Gegenoffensive war damit gescheitert. Alle damaligen Gebietsgewinne in diesem Tal sind verloren.
Welika Nowosilka ist aber nicht nur ein Symbol des wechselnden Kriegsglücks, sondern blickt auch auf eine bemerkenswerte Entstehunggeschichte zurück, deren Spuren nun weitgehend zerstört werden. Gegründet wurde die Ortschaft Ende des 18. Jahrhunderts von griechischstämmigen Siedlern aus der Krim und angrenzenden Küstengebieten. Sie sprachen Griechisch oder Türkisch, und noch am Ende der Sowjetzeit identifizierten sich in einer Volkszählung dreissig Prozent der Einwohner als Griechen. Manche Flurnamen erinnern bis heute an dieses Erbe, aber auch an die frühere Besiedlung durch Krimtataren. Auch in den jetzt umkämpften Flüsschen Mokri Jali, Schaitanka und Kaschlagatsch klingt die tatarische Vergangenheit an.