Der neue US-Präsident setzt auf Stärke. Die Europäer aber wollen die Schwachen fördern. Sie haben Wettbewerb und Wandel verlernt.
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In den Zeiten von Populismus und Protektionismus haben «neoliberale» Sozial- und Wirtschaftsreformen einen schlechten Ruf. Aber sie funktionieren. Seit Präsident Xavier Milei den argentinischen Staat mit der Kettensäge zertrümmert, ist die monatliche Inflation auf den tiefsten Wert seit langem gesunken. Milei ist nach einem Jahr im Amt so populär wie keiner seiner direkten Vorgänger zu diesem Zeitpunkt.
Dabei liegt die jährliche Inflation noch immer bei fast 200 Prozent, und viele Argentinier leben in Armut. Warum also die erstaunlichen Zustimmungswerte für den Präsidenten? Die Menschen schöpfen nach Jahrzehnten der Misswirtschaft erstmals Hoffnung, dass sich die Lage zum Besseren wendet. Dafür sind sie bereit, weitere Mühen auf sich zu nehmen.
Die Rocksängerin Janis Joplin sang einst: «Freedom is just another word for nothing left to lose.» Weil die Bürger nichts mehr zu verlieren haben, besitzt Milei die Handlungsfreiheit für drakonische Reformen.
Die argentinische Erfolgsgeschichte hält für Europa eine ungemütliche Lehre bereit. Solange die Bedingungen nicht verzweifelt sind, ist die Bereitschaft für Veränderungen begrenzt. Der Status quo ist bequem, fast jede Anspruchsgruppe hat etwas zu verlieren. Also ändert sich nichts. Das ist die Erfahrung Europas seit der Finanzkrise 2008.
Der Kontinent kommt nicht vom Fleck. Wirtschaftliche Dynamik findet sich in Asien und den USA, während die EU einen bürokratischen Albtraum nach dem anderen gebiert: Nachhaltigkeitsrichtlinie, Lieferkettenrichtlinie oder die Lasche, die den Deckel mit der Plastikflasche verbindet. Nichts ist zu gross, um reguliert zu werden, und nichts zu klein.
Deutschland befindet sich seit zwei Jahren in der Rezession, Frankreich türmt rekordhohe Schulden auf. Der Niedergang erfolgt schleichend. Es ist wie bei einem Autoreifen, aus dem unmerklich die Luft entweicht. Irgendwann fährt man auf der Felge.
Ist Europa noch reformfähig? Oder müssen sich die Bedingungen erst dramatisch verschlechtern, bis die Menschen zu einer Umkehr bereit sind? Diese beiden Fragen sind umso drängender, seit Donald Trump ins Weisse Haus zurückgekehrt ist.
Der Sozialstaat steht am Rand der Handlungsunfähigkeit
Trump wird die ohnehin starke Position der USA weiter verbessern, indem er Vorschriften streicht und den technologischen Vorsprung ausbaut. Schon jetzt profitiert das Land von billiger Energie, einem schlanken Staat und weniger Regulierung als in der EU.
Der Präsident setzt auf maximale Konkurrenz und teilt die Welt in Gewinner und Verlierer ein. Sich selbst sieht er auf der ewigen Gewinnerseite. Trump zelebriert seine Erfolge mit einer Mischung aus kindlicher Freude und düsteren Drohungen und deutet alle Niederlagen in gestohlene Siege um.
Europa hat hingegen den Wettbewerb verlernt. Dass manche triumphieren und andere scheitern, gilt als Sozialdarwinismus. Das Mantra der sozialen Gerechtigkeit hat die einfache Wahrheit verdrängt, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Allein dies auszusprechen, ist obszön.
Es beginnt schon in der Schule. Noten und Wettbewerb sind verpönt. In der Schweiz gilt das Diktat zunehmend als altmodisch. Die Rechtschreibung darf phonetisch gelernt werden, um die Kinder nicht zu überfordern. Europa nivelliert nach unten, während die Talentierten und die kapitalhungrigen Startups nach Amerika abwandern.
Trumps Raubtierinstinkten steht die Milde der europäischen Sozialarbeiter gegenüber. Alles muss inklusiv und partizipativ sein, obwohl sehr vieles exklusiv ist – zum Beispiel die Demokratie, die Teilhabe an die Staatsbürgerschaft knüpft. Die Asylpolitik ist ein Fiasko, weil man lange nicht akzeptieren wollte, dass nicht alle nach Europa kommen können, ohne die Staaten zu überfordern. Inklusion gilt als human, Zurückweisungen und Abschiebungen als unmenschlich.
Die knappe Flüchtlingskonvention – nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs ein Signal der Humanität – ist längst von einem Dickicht an zusätzlichen Vorschriften überwuchert. Wenn Regierungen dies korrigieren, werden sie von Gerichten gestoppt. Das macht den Staat handlungsunfähig. Viele Bürger halten das für ein Systemversagen der liberalen Demokratie, zumal Europa in anderen Bereichen seine Probleme ebenfalls nicht lösen kann. Es ist überall dasselbe Gestrüpp, das Laien verzweifeln und Experten resignieren lässt.
Auch der Sozialstaat hat die Inklusion auf die Spitze getrieben. Deutschland gibt jährlich 37 Milliarden Euro für Sozialhilfe aus, kann aber inmitten einer Rezession 700 000 Stellen nicht besetzen.
Der Sozialstaat balanciert an der Grenze zur Handlungsunfähigkeit. Er schafft keine Anreize für eine Arbeitsaufnahme, während sich die Normalverdiener benachteiligt fühlen. Dabei werden auch sie vom Kindergeld bis zur Rente subventioniert.
Am Ende sind alle unzufrieden, klammern sich aber an den Status quo. Der französische Premierminister François Bayrou hält sich nur im Amt, weil er eine Aufweichung der mühsam durchgesetzten Rentenreform in Aussicht stellt. Jede Veränderung bedroht Besitzstände und wird daher bekämpft.
Die EU muss kein bürokratisches Monster sein
Seit zwei Dekaden drehen alle deutschen Regierungen die Reformen von Gerhard Schröder zurück. Das Resultat: Die Sozialhilfe, das sogenannte Bürgergeld, ist explodiert; die Rentenversicherung benötigt einen staatlichen Zuschuss von 113 Milliarden und produziert dennoch Altersarmut. Bürgergeld und Rentenzuschuss verschlingen fast ein Drittel des Haushalts.
Dabei liegen die Rezepte für den Ausweg aus der Bewegungslosigkeit vor. Dazu gehören eine Kürzung des Bürgergelds und der Aufbau einer kapitalgedeckten Rente als zweite Säule – obligatorisch und steuerlich gefördert. Die Bürger wären keine Almosenempfänger, sondern Investoren in die eigene Zukunft: mehr Eigenverantwortung anstelle des überbordenden Sozialstaats.
Selbst die EU muss kein bürokratisches Monster sein. Wenn sich in Brüssel Zentristen, Liberale und Rechtskonservative wie Giorgia Meloni zusammentun, können sie den Dschungel der Regelungen lichten. Eine Kettensäge braucht es dafür nicht, eine Machete genügt.
Die pragmatischen Rechten haben ihre Ideen eines EU-Austritts fallengelassen und geben nur noch dem Nationalstaat den Vorzug vor der europäischen Integration. De Gaulles Vision eines Europa der Vaterländer ist aktueller denn je.
Die etablierten Parteien hingegen sind paralysiert. Der Brandmauer-Fimmel macht eine Zusammenarbeit mit dem rechten Rand unmöglich, bis die Realität wie in Österreich ein Umdenken erzwingt.
Dabei erreichen die Rechtskonservativen praktisch nirgends mehr als ein Drittel der Stimmen. Die etablierten Kräfte wären also in der Lage, Allianzen zu bilden und Reformen durchzusetzen. Doch in Deutschland scheiterte die «Ampel» vorzeitig an der Sozial- und Haushaltspolitik. In Österreich kam ein Dreierbündnis erst gar nicht zustande.
Das eigentliche Drama ist also nicht der Erfolg rechtsnationaler Parteien, sondern die Zerstrittenheit und Zersplitterung des Zentrums. Reformen gelingen nur mit klaren Mehrheitsverhältnissen, wie sie Schröder mit 40 Prozent der Stimmen sowie einem kleinen und gefügigen Koalitionspartner hatte. Der vermutlich nächste Kanzler Friedrich Merz kann froh sein, sollte er 30 Prozent bekommen.
Wenn sich die Mitte nicht einigen kann, gibt es nur eine Alternative: Stagnation und Abstieg oder Koalitionen ohne Denkverbote, in der Hoffnung, dass sie mehr zustande bringen.
Trump steht für Disruption. Viele Europäer hoffen deshalb auf eine geschlossene Abwehrfront. Sie sollten die Kraft des Faktischen nicht unterschätzen, wie sie sich in Wien manifestiert. Italien, Österreich, einige osteuropäische Länder, auch Grossbritannien werden keine Fundamentalopposition gegen Trump betreiben. Und da ist noch Frankreich, das bald Marine Le Pen zur Präsidentin wählen könnte.
Die Machtverhältnisse verschieben sich. Die Kungelei zwischen Konservativen und Sozialdemokraten in Brüssel geht zu Ende. Der Kontinent ist nicht mehr vereint in seiner Ablehnung Trumps wie vor acht Jahren.
Auf beiden Seiten des Atlantiks gärt es. Die Europäer haben die Wahl, ob sie sich für Wandel und Wachstum entscheiden: Make Europe great again. Bleibt die Blockade, werden sich die Verhältnisse weiter verschlechtern. Irgendwann gilt wieder das Janis-Joplin-Axiom, und Freiheit heisst dann, dass es nichts mehr zu verlieren gibt.