Wer abends durch die Stadt spaziert, sieht allen in die Wohnung. Dabei wird über die sozialen Netzwerke doch bereits genug Privates zur Schau gestellt.
Meinen Nachbarn sehe ich beinahe täglich. Er kommt abends oft spät nach Hause, verschwindet kurz in der Küche und setzt sich dann in seinem Schlafzimmer wieder vor den Computer. Er arbeitet viel. Ich schaue ihm vom Sofa aus zu. Mein Wohnzimmer und sein Wohnzimmer sind nur durch eine schmale Quartierstrasse getrennt. Dazwischen gibt es nichts, was die Sicht versperrt.
Fenster ohne Vorhänge sind keine Seltenheit in der Stadt, wo man sich zwar nicht grüsst, dafür aber weiss, was es bei den anderen zu essen gibt, weil man sich in die Stuben blickt. Das weiss, wer abends draussen spazieren geht.
Wie Flatscreens flimmern die riesigen Glasfronten der Neubauten links und rechts der Strasse. Man sieht zu, wie das Nachbarskind Trompete übt und sich die ältere Dame nebenan noch ein Glas Wein einschenkt. Reality-TV in Echtzeit. Wie gelacht, gestritten und häufig auch geschwiegen wird. Suspekt erscheint in einer Zeit, in der von der Liebesaffäre bis zum Lohn volle Transparenz gefordert wird, nur, was hinter geschlossenen Gardinen vor sich geht.
Mir sind Wohnungen mit Vorhängen trotzdem lieber. Erst dachte ich, es sei das schlechte Gewissen der Stalkerin, das bei mir Unbehagen auslöst, wenn ich in fremde Häuser blicke. Doch es ist etwas anderes.
Eine Flut von Inhalten
Das Privatleben wird heute (auch von Nichtpromis) immer mehr zur Schau gestellt. Was früher im Tagebuch stand, wird heute öffentlich dokumentiert. Die Plattform Instagram etwa verdoppelte kürzlich die maximale Anzahl der Fotos, die innerhalb eines Beitrags erlaubt sind, von zehn auf zwanzig. Man spricht seither von «photo dumps»: Ferienfotos, Food-Bilder, Badzimmer-Selfies werden scheinbar zufällig aneinandergereiht und mit irgendwelchen belanglosen Bildunterschriften wie «life lately» oder «kw 1» versehen – wer mehr ansehnliche Fotos in seiner «camera roll» hat, postet täglich ein Update.
Man könne der Flut von Online-Inhalten nur entgegenwirken, indem man selbst eine Flut von Inhalten veröffentliche, schreibt der amerikanische Tech-Journalist Kyle Chayka im Magazin «The New Yorker» über diese neue Form von Oversharing. Wer sichtbar bleiben will, muss immer mehr von sich preisgeben.
Immerhin, könnte man nun einwenden, ist der Blick ins Nachbarhaus wohldosiert und authentisch. Weil über Fensterscheiben keine Filter gelegt werden können, offenbart sich hier auch einmal Unvorteilhaftes. Ich frage mich jedoch: Warum sollte sich jemand in seinem privatesten und damit auch verletzlichsten Raum absichtlich dem Blick von aussen ausliefern wollen? Vermutlich, weil der Wille zur Inszenierung auch vor den eigenen vier Wänden nicht haltmacht?
«Gardinen? Sind etwas für Spiesser!»
Als Visitenkarte eines Zuhauses wurden Vorhänge einst bezeichnet. Sie waren gerüscht und aufwendig bestickt oder aus edlen Materialien wie Samt oder Seide gefertigt. Ihr Ansehen nahm in den siebziger Jahren ab, als man sich von allem, was potenziell einengt, zu entledigen versuchte. Gardinen? Sind etwas für Spiesser! Seit aber alle von aussen hineinsehen, ist das Innenleben der Wohnung wichtiger geworden und muss Eindruck hinterlassen. So überrascht es nicht, dass hinter vorhangsbefreiten Fenstern häufiger eine Akari-Lampe von Isamu Noguchi leuchtet als eine von Ikea. Ob jemand Vorhänge hat oder nicht, ist auch eine Frage der Klasse, das belegte eine amerikanische Studie bereits vor über zehn Jahren. Man zeigt, was man hat – und schützt es durch eine Alarmanlage.
Das Smartphone abschalten – und den Vorhang ziehen
Wurde früher noch beklagt, dass sich die Menschen auswärts wie zu Hause benehmen, dass sie in Trainerhosen herumlaufen und im Restaurant die Ellbogen auf den Tisch legen, ist heute das Gegenteil der Fall: Man kocht so, dass man es fotografieren kann. Ständig dem Blick (und damit auch der Bewertung) von aussen ausgeliefert zu sein, bestimmt, was jemand tut und was er lässt. Das besagt auch Jeremy Benthams Panoptikum-Theorie aus dem späten 18. Jahrhundert, die davon ausgeht, dass sich der Mensch stets der Norm entsprechend verhält, wenn er glaubt, beobachtet werden zu können.
Die Künstlerin Jenny Odell plädiert in ihrem Buch «Nichts tun» für ein «radikales Innehalten», sie versteht die Rückkehr nach innen als Gegenmittel zur ständigen Aussenorientierung in der modernen Gesellschaft. Dafür muss man auch einmal von der Bildfläche verschwinden. Das Smartphone abschalten – und den Vorhang ziehen. 1930 hiess es in einer Ausgabe der Zeitschrift «Wohnen»: «Zu gewissen Zeiten möchte man ganz von dem Lärm und Getriebe der Welt getrennt und abgeschieden sein, dann soll die Fensterbekleidung das Tageslicht dämpfen und alle Geräusche von uns fernhalten oder doch schwächen.» Das war vor bald hundert Jahren.
«Die moderne Gesellschaft hat ein sonderbares Verhältnis zu Nähe und Distanz.»
Die Reizüberflutung ist besonders hoch, seit es das Internet gibt. Auf Social Media sind wir damit beschäftigt, zu verfolgen, was andere machen. Ich weiss, dass die amerikanische Influencerin, der ich seit Geburt ihres Kindes vor acht Jahren auf Instagram folge, gerade in eine neue Wohnung zieht – doch wie geht es eigentlich der Kollegin, die nach der Trennung von ihrem Partner wieder alleine wohnt? Ich sollte sie anrufen. Stattdessen schaue ich irgendwelchen Fremden zu.
Die moderne Gesellschaft hat ein sonderbares Verhältnis zu Nähe und Distanz. Wir bekommen oberflächlich betrachtet immer mehr mit, aber echte Verbindungen bauen wir dadurch nicht auf. Das wird mir klar, als ich nach den Weihnachtsferien zum ersten Mal an diese weisse Stoffwand (ich tippe auf Leinen) blicke. Mein Nachbar hat Vorhänge montiert. Seither ist er verschwunden. Ich würde ihn gerne fragen, ob es meinetwegen ist, ob ich zu oft hinübergeschaut habe – und ob er sich nun besser fühlt. Aber spräche ich ihn an, würde er wahrscheinlich erschreckt fragen: Kennen wir uns?