Er ist Teil der französischen Elite – und empfiehlt Investoren, ihr Geld besser in den USA anzulegen. Der Ökonom Patrick Artus sorgt sich um die Zukunft Frankreichs und Europas.
Die USA ziehen Europa wirtschaftlich davon. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für die amerikanische Wirtschaft für dieses Jahr unter dem neuen Präsidenten Donald Trump mit einem Wachstum von 2,7 Prozent, das sind 0,5 Prozentpunkte mehr als bisher erwartet. Die Wirtschaft in der Euro-Zone dürfte hingegen nur um 1 Prozent zulegen. Schon seit Jahren hinkt Europa den USA beim Wachstum deutlich hinterher.
Schwierige Lage in Europa
Der renommierte französische Ökonom Patrick Artus, Senior Economic Advisor bei dem Vermögensverwalter Ossiam, analysiert die Lage in Europa schonungslos. «Der Draghi-Report zeigt die schwierige wirtschaftliche Lage des Kontinents», sagt er. Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), hat in dem Bericht die Wettbewerbsfähigkeit der EU untersucht. Laut der Publikation ist der Wohlstand in Europa schon jetzt um einen Drittel geringer als in den USA, und die Negativentwicklung setzt sich fort.
Die mageren Wachstumsaussichten erklären sich zu einem grossen Teil mit der Schwäche der grossen Volkswirtschaften Deutschlands und Frankreichs. Für die französische Wirtschaft erwartet der IWF in diesem Jahr ein Wachstum von lediglich 0,8 Prozent, für Deutschland sogar nur 0,3 Prozent.
Dabei sollte das deutsch-französische Tandem den EU-Karren eigentlich ziehen – doch nun stecken die beiden Kernstaaten vielmehr zusammen in der Krise.
«Deutschland muss investieren»
Artus analysiert die Gründe für die Krise. «Das deutsche wirtschaftliche Modell hat lange auf dem Import günstiger Energie beruht, vor allem aus Russland», sagt der 73-Jährige. Er lobt die Reformen der Agenda 2010 unter dem damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Diese hätten in Deutschland die Arbeitskosten im Bereich Dienstleistungen reduziert. «Die deutschen Unternehmen haben diese Wettbewerbsvorteile dazu genutzt, die Exporte weiter auszubauen.»
Eine Ruptur für das deutsche Wirtschaftsmodell sieht Artus im Ausbruch des Ukraine-Kriegs 2022 und in den daraufhin massiv gestiegenen Energiepreisen. Zudem habe es Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten versäumt, sein Modell stärker zu diversifizieren. Nun sei ein Umdenken nötig.
Artus empfiehlt der künftigen deutschen Bundesregierung – am 23. Februar wird der Bundestag gewählt –, stärker in die Infrastruktur und das Bildungssystem des Landes zu investieren und dafür bei der Haushaltsdisziplin zurückzustecken. Deutschland könne es sich leisten, mehrere Jahre lang grössere Budgetdefizite in Kauf zu nehmen, meint er. Die Staatsverschuldung stuft er als moderat ein. Im Jahr 2023 lag sie bei 63,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP).
Trotz der derzeitigen Krise ist Artus für Deutschland zuversichtlich. «Für Deutschland kann eine Lösung gefunden werden», sagt der französische Ökonom. Die deutsche Erwerbsbevölkerung sei nach wie vor sehr gut ausgebildet. Zudem verfüge das Land über viele starke mittelständische Unternehmen. «Dies bietet dem Land die Chance, sich bei der Art der produzierten Güter auf der Leiter nach oben zu bewegen», sagt er. Die deutschen Unternehmen hätten das Potenzial, besonders hochwertige und gefragte Güter wie Chips, Batterien oder erstklassige Elektroautos herzustellen. Diese Chance sollten sie nutzen, so könne das Land nach und nach aus der Krise kommen.
«Frankreich hat keine wirklichen Wettbewerbsvorteile»
Weniger optimistisch tönt es indessen, wenn Artus über Frankreich spricht. «Frankreich hat keine wirklichen Wettbewerbsvorteile», sagt er. «Die einzigen sind wohl bei den Museen, der Kultur und bei Freizeitbeschäftigungen zu finden – und natürlich bei Luxusgütern und Flugzeugen», sagt er.
Artus stellt sein Land als in der Vergangenheit verhaftet und verkrustet dar. Noch heute sei das Programme du Conseil National de la Résistance aus dem Jahr 1944 «die Bibel der Franzosen», sagt der Ökonom. Darin wurden die Reformen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dargelegt. Seitdem habe sich die Welt stark verändert, nur in Frankreich gebe es keinen Wandel.
Artus beschäftigt der Rückgang der Wettbewerbskraft der französischen Industrie in den vergangenen Jahrzehnten. Viele Firmen hätten jüngst zudem ihre Investitionen in Frankreich verringert und Projekte im Ausland gestartet. Die Investitionen in den Bereichen Forschung und Entwicklung sowie bei der Informationstechnologie seien in Frankreich viel zu niedrig, als dass sie die Wettbewerbsfähigkeit wieder verbessern könnten. Ohnehin gebe es in dem Land viel weniger mittelständische Unternehmen als in Deutschland.
Hinzu komme die politische Unsicherheit. Marktwirtschaftliche Reformen seien unwahrscheinlich, denn die politische Landschaft sei zu stark zersplittert. So drohten die Verhandlungen über das Budget für das Jahr 2025 erneut zu scheitern. «So kann man keinen Erfolg haben», sagt Artus. Er befürchte einen stetigen Niedergang Frankreichs, wenn die dringend nötigen Reformen nicht angegangen würden, beispielsweise in den Bereichen Bildung und Altersvorsorge.
Massive Defizite bei der Ausbildung
Zuletzt ist auch die Arbeitslosigkeit in Frankreich wieder gestiegen, im Dezember 2024 lag sie bei 7,8 Prozent. «Das französische Bildungssystem ist sehr schwach, und der Erwerbsbevölkerung fehlen Fähigkeiten in wirtschaftlich wichtigen Bereichen», sagt Artus. So gebe es massive Defizite bei der Ausbildung der Bevölkerung in den Bereichen Mathematik, Technik und Naturwissenschaften.
«Es gibt zu wenige Lehrer, die eine Ausbildung in diesen Bereichen mitbringen, und dies schlägt sich in der Ausbildung der Schülerinnen und Schüler nieder», sagt Artus. Das niedrige Niveau der Ausbildung zeige sich in Untersuchungen wie der Pisa-Studie, in denen Frankreich schlecht abschneide. Selbst von Dozenten an den berühmten französischen Eliteschulen höre er mittlerweile Beschwerden über das Niveau der Studierenden, sagt Artus, der selbst jahrelang an der Ingenieur-Kaderschmiede École Polytechnique unterrichtet hat. «Dies macht es schwierig, im Bereich Industrie wieder aufzuholen oder im Bereich künstliche Intelligenz vorne dabei zu sein», sagt Artus.
Die Franzosen arbeiten zu wenig
Generell arbeiteten die Franzosen zu wenig, sagt Artus. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in einem Erwerbsleben sei verglichen mit anderen Ländern zu niedrig. Die erste Festanstellung hätten Franzosen im Durchschnitt erst mit 27 Jahren und damit deutlich später als die Bevölkerung in anderen Ländern. Dies sei auch auf die Mängel im Bildungssystem zurückzuführen.
Hinzu komme das zu frühe durchschnittliche Rentenalter von knapp 63 Jahren. Und während ihrer Erwerbstätigkeit hätten die Franzosen zu viele Ferien und fehlten im Durchschnitt krankheitsbedingt weitere drei Wochen pro Jahr bei der Arbeit. «Dies ist ein gravierendes Problem für französische Unternehmen», sagt der Ökonom. Hinzu komme, dass sich die Produktivität deutlich verschlechtert habe. All dies führe letztlich dazu, dass das französische Bruttoinlandprodukt zu niedrig ausfalle.
Mit der Regierung unter Ministerpräsident François Bayrou dürfte sich die wirtschaftliche Lage nicht verbessern, befürchtet Artus. Alle Indikatoren sprächen dafür, dass sich die Konjunktur in Frankreich weiter abschwäche. So sei davon auszugehen, dass das Budgetdefizit in Frankreich in diesem Jahr mindestens genauso hoch sein werde wie letztes Jahr – und im Gegensatz zu Deutschland habe Frankreich aufgrund seiner hohen Verschuldung keinen finanziellen Spielraum.
Europa droht Wettbewerbskraft zu verlieren
Auch auf europäischer Ebene fehlten die Impulse. Mit ihrer Vielzahl an Regulierungen bremst die EU die Wirtschaft. Artus hält die strengeren Regulierungen der EU im Bereich Umwelt angesichts des fortschreitenden Klimawandels zwar für gerechtfertigt. «Sie sind aber praktisch ein Selbstmord, wenn die EU sie als einziger der grossen Wirtschaftsblöcke umsetzt», sagt er. So werde der Klimawandel nicht aufgehalten, dafür drohe Europa mit den strikteren Vorschriften im Bereich der Industrie weiter an Wettbewerbskraft zu verlieren.
Auch die demografische Entwicklung setze Europa mehr und mehr zu, sagt Artus. «Die niedrigen Geburtenraten in Europa dürften sich letztlich in den Aktienkursen und Immobilienpreisen niederschlagen», erwartet er. Ältere Leute verkauften Anlagen, um ihre Pensionierung zu finanzieren, und es gebe zu wenige Käufer. Diese Entwicklung sei derzeit in China zu beobachten, und sie drohe auch in Europa. Dies sei auch ein wichtiges Argument für mehr Zuwanderung. In jedem Fall sollten Investoren die demografische Entwicklung in Ländern in ihre Anlageentscheide einbeziehen.
Spanien und skandinavische Länder als Lichtblicke
Als Lichtblicke in Europa sieht der Ökonom Spanien sowie die skandinavischen Länder. Laut den IWF-Schätzungen ist die spanische Wirtschaft im vergangenen Jahr um 3,1 Prozent gewachsen, in diesem Jahr sollen es 2,3 Prozent sein. Dies sei beachtlich, sagt Artus. «Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die spanische Wirtschaft im Bereich der Produktion nicht stark ausgereift ist.» Wie bei Portugal auch komme das Wachstum aus den Bereichen Tourismus, Konsumgüter und Nahrungsmittel, zudem profitiere die Wirtschaft von einer starken Zuwanderung und günstigen Arbeitskräften.
Auch einige Länder in Nordeuropa sind in besserer Form als Frankreich und Deutschland. Es genüge schon ein Blick auf die Liste der Grossunternehmen in skandinavischen Ländern, sagt Artus und nennt Schwergewichte wie Novo Nordisk, Lego oder Maersk. Die skandinavischen Länder zeigten, wie sich Wirtschaftswachstum mit einer guten sozialen Absicherung von Arbeitnehmern vereinbaren lasse. Zudem hätten sie sich stetig modernisiert.
US-Unternehmen sind profitabler als europäische
Trotz diesen Lichtblicken rät Artus Investoren, sich lieber in den USA als in Europa zu engagieren. Als Hauptgrund hierfür nennt er die grossen Unterschiede bei der Produktivität. «US-Unternehmen sind im Durchschnitt einfach viel profitabler als europäische», sagt Artus. Dies erkläre auch die höheren Bewertungen von amerikanischen Unternehmen. Auch bei der demografischen Entwicklung seien die USA im Vorteil gegenüber Europa.
Artus empfiehlt allerdings, bei Investitionen in den USA genau hinzuschauen und auf ein gut diversifiziertes Portfolio an amerikanischen Aktien zu setzen. Der Hype um die künstliche Intelligenz (KI) sei für Investoren gefährlich – so rät der Ökonom, sich von den Titeln der Magnificent Seven fernzuhalten. Dies sind die Konzerne Alphabet, Apple, Amazon, Nvidia, Meta, Microsoft und Tesla.
Als Investor sei es sinnvoller, einen Blick auf die Nutzer von KI zu werfen. So dürften Firmen in den Sektoren Gesundheit, Logistik und Industrie von den Entwicklungen im Bereich KI stark profitieren.
Deepseek als positive Überraschung
Der Ökonom rechnet mit weiteren Überraschungen im Bereich KI, die Aufregung um das chinesische KI-Startup Deepseek diene hier als Beispiel. Die Entwicklung von Deepseek sei eine gute Entwicklung für die Nutzer von KI, aber eine sehr schlechte für die Magnificent Seven, da diese bereits sehr viel Geld in die Entwicklung von KI-Modellen investiert haben. Er sei sich sicher, dass am Markt bald weitere kleine, agile Unternehmen wie Deepseek auftauchen würden.