Richard Sennetts Essay «Der darstellende Mensch» vergleicht Formen der Selbstdarstellung – vom Alltag über die Politik bis ins Theater. Der Text öffnet den Blick für Phänomene der Gegenwart.
Populismus ist ein Schauspiel. Selbstgerechte Politiker treten als rebellische Volkstribune auf und hetzen das sogenannte Volk auf gegen die sogenannte Elite. In skandalträchtigen Auftritten verletzen sie die Regeln des Anstandes und des guten Geschmacks, um die dumpfen Instinkte all jener zu wecken, die sich als Zukurzgekommene empfinden. Von der Gefolgschaft der Verlierer nämlich erhoffen sich die Populisten den Sieg.
Der amerikanische Soziologe Richard Sennett empfindet Abscheu vor Populisten und insbesondere vor Donald Trump. In seinem Essay «Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik» will er seine Verachtung dem Potentaten gegenüber sofort zum Ausdruck bringen – der wertfreien Wissenschaft zum Trotz.
Trump sei ein narzisstischer Demagoge, der die Wahrheit verfälsche, um seine Gegner zu schwächen. Das demonstrativ vulgäre Auftreten des politisierenden Multimilliardärs erinnert den Soziologen immerhin daran, dass sich Politik stets in szenischer Aufmachung manifestiert. «Die ganze Welt ist eine Bühne», heisse es in Shakespeares «Wie es euch gefällt» – kein Wunder, dass da auch Politiker eine Rolle spielen.
Politische Provokationen
Bei Populisten scheint das Moment der Inszenierung besonders ausgeprägt. Das jedenfalls ist der Eindruck in der Theaterszene selbst. In der Politik werde heute unbefangen gespielt und gelogen, befand etwa Stefan Bachmann, Intendant am Wiener Burgtheater, kürzlich in einem Interview mit der NZZ. Mit ihrem grotesken Schauspiel stellten die Populisten beinahe das Theater in den Schatten.
Und der deutsche Regisseur Christopher Rüping meinte, er sei an Provokation als theatrales Mittel nicht mehr interessiert. Der Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen, indem man das angeblich Unsagbare «herausblöke» – das sei eine Masche von Trump und den Politikern der AfD. «Wir brauchen sie nicht auch noch im Theater.»
Richard Sennett allerdings zeigt in seinem aufschlussreichen, allerdings etwas sprunghaften Essay, dass der Populismus eine lange Geschichte hat. In seinen eher assoziativen als systematischen Erkundungen durch die Zeiten kommt er etwa auf den athenischen Politiker und Heerführer Kleon zu sprechen. Dieser soll ein schlimmer Wortverdreher gewesen sein, der sich wie ein Bauer kleidete und auf der Rednerbühne tobte, um die Zuhörerschaft zu verführen.
Zur Sprache bringt der Soziologe auch Machiavelli. Der Renaissance-Philosoph empfahl Herrschern ein unberechenbares, quasi populistisches Rollenspiel, damit diese hinter den Masken der Inszenierung ungestört ihren Interessen und Geschäften nachgehen könnten. Das Maskenspiel erscheint relativ bescheiden im Vergleich zu dem theatralen Aufwand, den Herrscher sonst betrieben. Man denke an den barocken Hofstaat des sich als Sonnenkönig in Szene setzenden Louis XIV. Oder an Diktatoren wie Hitler und Stalin, die ihre totalitäre Herrschaft als suggestives Propagandaspektakel inszenierten. Oder an Wladimir Putin, der sich im Kreml als Zar aufspielt.
Sehen und gesehen werden
Für die Verwandtschaft zwischen Theater und politischer Selbstdarstellung also gibt es zahlreiche Beispiele. Und sie kommt laut Sennett nicht von ungefähr: Politische und schauspielerische Darstellungsformen hätten sich in der griechischen Antike im gleichen institutionellen Rahmen entfaltet.
Sennetts Aufmerksamkeit gilt zunächst privaten Formen der Selbstdarstellung. Dabei richtet er den Fokus auf die griechische Agora: Auf dem städtischen Markt- und Festplatz hätten sich Muster von Selbstinszenierung wie von selbst im freien Spiel von Sehen und Gesehenwerden herauskristallisiert.
Solche Prozesse haben sich später in Städten und Metropolen wiederholt. Die urbane Welt bietet Einwohnern wie Einwanderern bis heute die Möglichkeit, sich in neue Identitäten hineinzuleben – als Bourgeois zum Beispiel oder als Bohémien. Honoré de Balzac habe diese Rollenspiele in seinen Romanen exemplarisch aufgezeigt, findet Sennett.
Wäre der Soziologe weniger stark auf die Geschichte fixiert, könnte er auch in der Gegenwart der Social Media, die er weitgehend vernachlässigt, eine Art digitaler Agora erkennen. Auch das Internet bietet seinen Bewohnern neue Möglichkeiten der Selbstinszenierung. Und all die kreativen Energien, die Userinnen und User beim Schminken, Frisieren, Bekleiden, Schreiben, Filmen, Singen und Tanzen freisetzen, verdienen eigentlich Respekt.
Oft aber bleiben solche Leistungen im Schatten jener griesgrämigen Skepsis verborgen, die in den Inszenierungen auf Social Media nur Fake sehen will. Als Party-Crasher fordert sie angesichts neuer Formen und Medien der Selbstdarstellung ausgerechnet Authentizität. Ihre Identitätsgebote gehen dabei so weit, selbst in Rollenspielen eine Deckungsgleichheit von Darstellenden und Darstellung zu verlangen.
Von Identitätspolitik spricht Sennett zwar nur beiläufig. Dabei wird immerhin klar, dass ihm an der künstlerischen Freiheit mehr liegt als an einer absurden Korrektheit des Castings. Mehr interessiert ihn ohnehin, wie Rollenspiele von speziellen Institutionen und Bühnen abhängen. Dazu lenkt er den Blick abermals auf Griechenland – um zu zeigen, wie am Rand der Marktplätze Plattformen entstanden; samt halbrunden, in den Hang gebauten Auditorien.
Eine schwierige Beziehung
In diesen Amphitheatern fanden anfangs sakrale Feierlichkeiten und Mysterienspiele statt wie die sogenannten Dionysien. Dabei gab es noch keine Scheidung zwischen professionellen Darstellern und Publikum. Wie später etwa in der christlichen Messe sollte die rituelle Darstellung vielmehr eine Einheit schaffen zwischen den Anwesenden. Erst mit der Zeit diente das Amphitheater auch als Plattform für Poeten, Schauspiel und politische Redner.
So kam der Prozess der Professionalisierung von Künstlern und politischen Akteuren in Gang. Beide aber konnten jene zeremoniellen und sakralen Prägungen, die auf das rituelle Dispositiv des Amphitheaters zurückzuführen sind, nie ganz hinter sich lassen.
In Ritual und Theater sieht Sennett deshalb «zwei unbehaglich nebeneinander stehende Formen der Darstellung». Die eine will sozusagen zeitlose Verlässlichkeit, die andere lebendige Originalität. Es geht dabei nicht um Gebräuche wie das Schliessen und Öffnen eines Vorhangs oder die sozialen Regeln des Applaudierens. Sennett meint vielmehr der Umgang mit dem künstlerischen Erbe selbst.
Seit der Renaissance haben Künstler und Schauspieler immer mehr Raum für ihre Selbstverwirklichung in Anspruch genommen – auf Kosten von Tradition und Ritualen. Und während sich innovative Verfahren und Fertigkeiten in Handwerk und Kunst einst anonym über Regionen und Generationen verbreiteten, so tritt in der Neuzeit das individuelle Talent als Star in Erscheinung und lässt seinen Namen feiern.
Oben auf der Bühne, im Lichte der Scheinwerfer, mag man das als befriedigende und befreiende Entwicklung sehen – nicht aber unten im Publikum. Die Kunst hat ja nicht nur Darsteller und Interpreten hervorgebracht. Es gibt auch Schöpfer und Schöpfungen. Wie bei Präzedenzfällen im Gericht festigen sich gewisse Sichtweisen und Interpretationen zur Tradition. Umso schwerwiegender spätere Abweichungen, die die Aufmerksamkeit auf den Darbietenden lenken –auf Kosten von Werk und Autor.
Sennett zitiert eine These der Kinderpsychologin Anna Freud: Wenn das Kind einer Märchenerzählung zuhöre, wolle es, dass die Geschichte in den Wiederholungen stets zuverlässig und detailgerecht bestätigt werde. Wenn das Kind dagegen selbst zu erzählen beginne, ergreife es Besitz vom Inhalt, indem es ihn nach eigenen Vorstellungen darstelle und die Rollen selbst frei ausgestalte.
Als Leser möchte man die beiden Positionen gleich unter Publikum und Darstellern aufteilen. Während Ersteres zur Tradition und mithin zur gleichsam rituellen Bestätigung seiner ästhetischen Erfahrungen und Werte neigt, suchen sich die Künstler meist durch Abweichungen zu profilieren. In der Moderne wurde die Originalität zum Fetisch. Genies und Stars formierten eine militante Avantgarde, denen das Publikum zu folgen hatte, wollte es den künstlerischen Fortschritt nicht verpassen.
Unterdessen jedoch, im Zeichen allgemeiner Verunsicherung und in einer Kulturszene, die immer mehr auf den Markt und die Nachfrage angewiesen ist, bewähren sich vor allem jene Gattungen, die auf einer lebendigen Klassik oder einem breiten Mainstream basieren – Kino, Romane, Oper. Das (deutschsprachige) Theater hingegen scheint aus der steten Erneuerung einen rituellen Zwang gemacht zu haben. Das sorgt zwar für eine künstlerische Dynamik, wie man sie kaum mehr in einem anderen Genre antrifft. Aber es ist kontrovers und manchmal ungemütlich.
Imperialer Auftritt
Dass Regelverletzungen und Provokationen das Publikum auf die Dauer strapazieren, müssen früher oder später auch Populisten feststellen. Tatsächlich dient der Populismus eher der Machtgewinnung als der Machterhaltung. Es handelt sich eben um eine machiavellistische Methode, nicht um ein politisches Programm.
Und wenn die politischen Provokateure und Hasardeure von gestern heute plötzlich an die Macht kommen, verzichten sie gerne auf Unflat und Skandal. Lieber besinnen sie sich auf altes Zeremoniell, um ihre Herrschaft nun als scheinbar gottgegeben zu legitimieren. Sennetts Essay ist vor Trumps Inauguration zum 47. Präsidenten der USA erschienen. Sonst hätte der Soziologe beschreiben können, wie sich Trump, der unverschämte Trampel, nun plötzlich als beherrschter, geradezu imperialer Staatsmann in Szene setzte.
Richard Sennett: Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik. Hanser-Verlag, Berlin 2024. 285 S., Fr. 46.90.