Vor achtzig Jahren trafen sich die «Grossen Drei» zu Verhandlungen über die Nachkriegsordnung. Was sie damals beschlossen, unterscheidet sich fundamental von der Legende über jene Konferenz, die tief in vielen Köpfen sitzt. Das hat politische Folgen bis heute.
Roosevelt, Stalin, Churchill: Drei sehr unterschiedliche Staatsführer setzten sich vor achtzig Jahren ausserhalb der Schwarzmeerstadt Jalta an einen Konferenztisch. Acht Tage lang sollten die drei Verbündeten über die Weltordnung für die Zeit nach Hitler beraten. Erst einige Monate vorher hatten die sowjetischen Truppen der Nazi-Besatzung auf der Krim ein Ende gesetzt. Inzwischen näherten sie sich Berlin; der Gastgeber Josef Stalin befand sich entsprechend in einer starken Position.
Der amerikanische Präsident Franklin Roosevelt dagegen war von Krankheit gezeichnet und hatte nur noch zwei Monate zu leben. Winston Churchill, der zigarrenrauchende Brite, besass politisch das schwächste Gewicht der drei, aber er hatte sein Land durch den Weltkrieg gebracht und versuchte die Interessen seines angeschlagenen Kolonialreichs am Verhandlungstisch einzubringen.
Was dieses Trio im Palast von Liwadija, der einstigen Sommerresidenz des letzten Zaren, vereinbarte, ist heute Teil eines kuriosen Mythos, der von Generation zu Generation weitergereicht wird. Kurz gefasst, lautet diese irrtümliche Erzählung so: In Jalta beugten sich die Führer der Anti-Hitler-Koalition über die Landkarten und beschlossen die Teilung Europas und der Welt in unterschiedliche Einflusszonen. In zynischer Weise wurde damit die Grundlage für die spätere Ost-West-Konfrontation im Kalten Krieg gelegt. Jalta war damit ein Wendepunkt und leitete eine Fehlentwicklung ein, die erst mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989 überwunden werden konnte.
Sinnbild einer zynischen Machtpolitik
Kein Wunder, tritt diese Sichtweise bei Jahrestagen regelmässig zutage. «Als die Welt in Ost und West geteilt wurde», titelte ein deutscher Fernsehsender vor fünf Jahren. Selbst die sonst hervorragend informierte «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schrieb, in Jalta hätten die Sieger des Zweiten Weltkriegs Europa über die Köpfe der Völker hinweg in Einflusszonen aufgeteilt. Und fragt man Chat-GPT, das vermeintliche Weltwissen, so kommt die Antwort ohne den Hauch eines Zweifels daher: «Die Vereinbarungen, die dort getroffen wurden, führten faktisch zur Aufteilung Europas in einen westlichen und einen östlichen Block.» «Jalta» ist zum Sinnbild einer fatalen Machtpolitik geworden, zum Schimpfwort, das Nato-Generalsekretäre genauso verwenden können wie Kreml-freundliche Politologen.
Mit der historischen Realität hat all dies jedoch wenig zu tun. Weder legten die «Grossen Drei» in Jalta Einflusszonen fest, noch lässt sich die spätere Teilung Europas auf jenes Zusammentreffen zurückführen. Bedeutende Weichenstellungen erfolgten in jenem Februar 1945 durchaus, vor allem zwei: Zum einen erwirkte Roosevelt die Zusage Stalins, spätestens drei Monate nach der Kapitulation Deutschlands mit der Roten Armee in den Krieg gegen Japan einzutreten. Für die USA hatte dies hohes Gewicht, da der deutsche Zusammenbruch absehbar, aber die Aussicht auf einen baldigen Sieg im Pazifikraum keineswegs rosig war.
Roosevelt konnte zu jenem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass sein Land mit der Atombombe bald über eine Waffe verfügen würde, um auch Japans Kapitulation zu erzwingen. Stalin vergoldete sich seine Hilfszusage mit der westlichen Anerkennung der sowjetischen Ansprüche auf die Kurilen und den Südteil der Insel Sachalin.
Zum anderen einigten sich die «Grossen Drei» definitiv auf die Gründung der Vereinten Nationen – auch dies eine Priorität der Amerikaner. Sie verständigten sich darauf, dass die Siegermächte, einschliesslich Frankreich und China, im künftigen Uno-Sicherheitsrat über ein Vetorecht verfügen würden. Dieses vielkritisierte Grundprinzip gilt bis heute.
Selbstverständlich stand auch Europa im Zentrum der Verhandlungen. Aber die Beschlüsse hatten nichts mit dem späteren Jalta-Mythos gemein. Die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen war von den Alliierten lange vorher vereinbart worden. Neu kam nun auf Drängen Churchills hinzu, dass auch Frankreich eine eigene Besatzungszone verwalten würde.
Vereinbart wurde nicht die Spaltung Europas in zwei Blöcke, sondern im Gegenteil – zumindest auf dem Papier – die Achtung demokratischer Prinzipien in allen befreiten Staaten. In der «Deklaration über ein befreites Europa» bekannten sich die drei Grossmächte ausdrücklich zum Prinzip, dass überall demokratisch breit abgestützte Regierungen entstehen sollten und möglichst bald freie Wahlen abzuhalten seien.
Ohnmacht im Fall Polen
Am konkretesten stellt sich diese Frage im Fall Polen. Die Rote Armee hielt zu diesem Zeitpunkt schon den Grossteil dieses Landes besetzt. Eine prosowjetische Regierung existierte bereits. Den Westalliierten gelang es nur noch, von Stalin ein Lippenbekenntnis zur demokratischen Zukunft Polens zu erhalten und die Zusage, dass die provisorische Regierung durch demokratische Führer aus dem In- und Ausland ergänzt werden sollte.
Es war deshalb keineswegs so, dass Amerikaner und Briten Polen einfach dem sowjetischen Bären überliessen. Für Churchill war, wie er an der Konferenz erklärte, das Schicksal Polens eine «Frage der Ehre», da Grossbritannien wegen dieses Landes überhaupt erst in den Krieg eingetreten war. Eher versuchte die Konferenz, die Einheit der Anti-Hitler-Koalition ein letztes Mal zu bekräftigen und die Interessengegensätze zu übertünchen.
Die spätere Spaltung Europas und die Entstehung eines von Moskau beherrschten Ostblocks waren nicht Folgen von Jalta. Sie hatten ihre Ursachen im Kriegsverlauf, der die künftige Machtordnung unerbittlich vorspurte. Stalin brachte dieses Prinzip damals mit folgenden Worten auf den Punkt: «Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann.»
Entsprechend ist es müssig, darüber zu sinnieren, ob die Westalliierten in Jalta mehr für eine freiheitliche Zukunft des Kontinents hätten erreichen können. Sie waren gegenüber der von der Roten Armee geschaffenen Macht des Faktischen schlicht zu schwach. In allen sowjetisch besetzten Ländern Ostmitteleuropas setzte Stalin autoritäre, prokommunistische Regime ein – ungeachtet seiner hehren Worte in Jalta.
Irrtum mit politischem Kalkül
Erstaunlich ist nicht dies, sondern die Tatsache, dass Jalta zum Gegenstand einer unausrottbaren Legende werden konnte. Der Historiker Reiner Marcowitz hat schon vor einem Vierteljahrhundert dargelegt, dass der französische General und spätere Staatschef Charles de Gaulle daran erheblichen Anteil hatte. In seinen Memoiren warf de Gaulle den ungeliebten Angelsachsen vor, die Staaten Ostmitteleuropas gezwungen zu haben, zu Satelliten der Sowjetunion zu werden. Nicht nur war de Gaulle verstimmt darüber, keinen Platz am Konferenztisch erhalten zu haben. Er propagierte den Jalta-Mythos jahrzehntelang auch als Mittel, um Frankreich als wahren Hüter europäischer Interessen zwischen Washington und Moskau darzustellen.
Der polnische Völkerrechtler Adam Rotfeld hat schon 1985, also beim 40-Jahr-Jubiläum, eine weitere plausible Erklärung vorgelegt: «Wir alle sind Gefangene einer bestimmten Denkweise, die aus der Schule und aus den Geschichtsbüchern herrührt, in denen nicht historische Prozesse die treibende Kraft sind, sondern grosse Konferenzen und ihre Beschlüsse.» Auch für Rotfeld, später Aussenminister des demokratischen Polen, bestand kein Zweifel, dass Jalta letztlich nur das neue Kräfteverhältnis ausdrückte, das der Krieg in Europa herbeigeführt hatte.
Derselbe Glaube an die Macht von Konferenzen lässt sich heute bei jenen beobachten, die sich von Friedensverhandlungen ein Wunder für die Ukraine erhoffen. Wie der Zweite Weltkrieg wird aber auch der heutige Krieg in Europa nicht am Verhandlungstisch entschieden werden. Die Entscheidung über die künftige Unabhängigkeit, die Ausmasse und den Freiheitsgrad der Ukraine wird auf militärischem Weg fallen. Wie 1945 werden die Diplomaten dereinst nur noch die Macht des Faktischen abbilden können – und, so sieht es derzeit aus, den Divisionen Moskaus Tribut zollen müssen.