Die humanitäre Hilfe gehört zu den Instrumenten der amerikanischen Sicherheitspolitik wie die Nato. Die Disruption in Washington hat direkte Folgen auf die geopolitische Lage. Drei Szenarien.
Als in Kosovo der Krieg im Juni 1999 endlich zu Ende war, sprossen die ersten Blumen aus Alu-Büchsen mit der Aufschrift USAID. Die Notrationen der amerikanischen Agentur für internationale Entwicklung haben die kosovarischen Vertriebenen in der prekärsten Zeit ihres Lebens ernährt: auf der Flucht durch die Wälder und in überfüllten Flüchtlingslagern auf der anderen Seite der Grenze.
Allein im April 1999 schickte der amerikanische Präsident Bill Clinton 500 000 Portionen Essen nach Albanien und 600 000 nach Mazedonien. Die humanitäre Unterstützung aus den USA half der Zivilbevölkerung zu überleben, während die serbischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen die kosovarische Untergrundarmee mordeten und brandschatzten. Erst die Nato-Luftangriffe stoppten die Gewalt.
«NZZ Pro» – geopolitische Einordnung im Überblick
Kurzgefasst: Donald Trump will USAID zerstören, was das Ende der US-Entwicklungshilfe bedeuten könnte. Dies würde insbesondere Afrika und den Nahen Osten treffen, was wiederum den Migrationsdruck auf Europa erhöhen könnte.
Geopolitische Einschätzung: Die Soft Power der USA würde geschwächt. Russland könnte die Unsicherheit ausnutzen, um Migration als Druckmittel gegen Europa einzusetzen. Gleichzeitig zeigt sich, dass Soft Power und Sicherheitspolitik eng miteinander verknüpft sind.
Blick voraus: Ein stärkeres europäisches Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit ist notwendig, um Migration zu steuern und geopolitische Stabilität zu sichern.
Bei ihrer Rückkehr standen die Menschen in den besonders umkämpften Gebieten Kosovos vor dem Nichts. Überall lagen Minen, die Häuser waren zerstört. Die USAID-Notrationen erinnerten an die Solidarität der amerikanischen Bevölkerung: «A Gift of the American People», stand auf den Büchsen, die nun als improvisierte Blumentöpfe dienten. So begann die amerikanisch-kosovarische Freundschaft.
Nothilfe kombiniert mit politischer Mission
Präsident Donald Trump und sein Vollstrecker, der Tech-Milliardär Elon Musk, wollen nun dieses starke Mittel der amerikanischen Soft Power zerschlagen. Bereits am ersten Tag seiner zweiten Präsidentschaft unterzeichnete Trump den Befehl, die amerikanische Auslandhilfe für 90 Tage zu pausieren – ausser für Israel und Ägypten. Im gleichen «Executive Order» sistierte er auch die Tätigkeit von USAID.
Die Begründung liest sich wie eine Verschwörungstheorie in den sozialen Netzwerken: Die amerikanische «Entwicklungshilfe-Industrie und -bürokratie» trage zur Destabilisierung des Weltfriedens bei, «indem sie in anderen Ländern Ideen fördern, die im direkten Gegensatz zu harmonischen und stabilen Beziehungen innerhalb von und zwischen Ländern stehen.»
Damit nimmt die Trump-Administration direkt den russischen Vorwurf auf, USAID stecke hinter den Demokratiebewegungen in Osteuropa oder im Nahen Osten. Tatsächlich verband Washington die humanitäre Hilfe oft mit politischen Botschaften, deren Inhalt je nach Administration in Nuancen variieren konnten. Doch über den Kern der amerikanischen Mission einer besseren, demokratischeren Welt waren sich Demokraten und Republikaner bisher einig.
Musk, der mit seinem «Department of Government Efficiency» (Doge) die Effizienz der Verwaltung steigern soll, bezeichnete USAID auf seinem Kurznachrichtendienst als «kriminelle Organisation», ein «Vipern-Nest von radikal linken Marxisten, die Amerika hassen». Es geht offensichtlich um Ideologie, um die «Anti-Woke-Revolution», nicht um den Abbau von Bürokratie.
USAID was a viper’s nest of radical-left marxists who hate America https://t.co/0xKxmN5Pss
— Elon Musk (@elonmusk) February 2, 2025
Trump und Musk gehen in ihrem Furor weiter als die Überlegungen der konservativen Heritage-Foundation, die mit ihrem «Project 2025» eine Reihe programmatischer Vorschläge für Trumps zweite Präsidentschaft formuliert hatte. Zu Recht stellt Max Primorac, der Autor des Kapitels über USAID, fest, dass die Entwicklungshilfe zu oft von der Strategie und der Praxis der amerikanischen Aussenpolitik entkoppelt sei.
Destruktiver Charakter der neuen Administration
«Project 2025» kritisiert den einseitigen Fokus auf Gender- und Klima-Aspekte oder die Auswahl der lokalen Partner. Primorac schlägt deshalb vor, USAID politisch neu auszurichten und vor allem mit «am Glauben orientierten Organisationen» zusammenzuarbeiten. Gemeint sind damit praktisch ausschliesslich christliche Hilfswerke wie die evangelikale World Vision oder die Catholic Relief Services.
Auch wenn Primorac das Budget von USAID zurück auf den Stand von 2019 kürzen will: Die Daseinsberechtigung und die ideelle Tradition der Organisation stellt er nicht infrage. Musk scheint auch in dieser Frage eine Radikalisierung der superkonservativen Politik voranzutreiben – und riskiert damit, ein starkes Mittel der amerikanischen Aussen- und Sicherheitspolitik zu opfern.
Bisher übernahm die Agentur, die Präsident John F. Kennedy 1961 gegründet hatte, im humanitären Sektor weltweit eine ähnliche Rolle wie die amerikanischen Streitkräfte für die globale Sicherheitspolitik. Die USA haben bisher auch bei der Entwicklungszusammenarbeit überproportional viele Mittel ausgesetzt; auch in Regionen, die vor allem aus europäischer Perspektive eine hohe strategische Bedeutung haben.
Gegenwärtig ist die Suche nach konkretem Zahlenmaterial allerdings eingeschränkt, weil die Website von USAID nur noch einen Aufruf an die Belegschaft aufgeschaltet hat, in die USA zurückzukehren.
Schlüsselrolle von USAID in Westafrika und im Sahel
USAID hat in den vergangenen Jahren insbesondere im Nahen Osten, in der Sahel-Zone südlich der Sahara oder in Westafrika signifikante Beiträge geleistet: bei Ernährungsprogrammen, bei Projekten zur Dürrebekämpfung oder durch eine Partnerschaft mit der Afrikanischen Entwicklungsbank, um die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents zu fördern.
Jedes Jahr fliessen rund eine Milliarde Dollar aus dem Westen in den Sahel. Die EU und USAID investieren etwa gleich viel, was erstaunlich ist: vor allem mit Blick auf den hohen Migrationsdruck Richtung Europa und die politischen Veränderungen in der Region. Russland ist im Sahel und in Zentralafrika militärisch präsent, China investiert auf dem ganzen Kontinent in Infrastrukturprojekte, leistet aber kaum humanitäre Hilfe.
Mit anderen Worten: Würden die Leistungen von USAID südlich der Sahara ganz wegfallen, wäre die Versorgungssicherheit der Zivilbevölkerung zumindest stark gefährdet. Der Kreml könnte die Lage nutzen, um eine Migrationsbewegung über das Mittelmeer in Gang zu setzen – und so die politische Spaltung in den europäischen Staaten weiter antreiben.
Entwicklungszusammenarbeit gehört zur Sicherheitspolitik
Ende Januar hat der amerikanische Aussenminister Marco Rubio eine Ausnahmeregelung verschickt, damit die USA weiterhin weltweit «lebensrettende humanitäre Hilfe, medizinische Dienstleistungen, Lebensmittel oder Unterkünfte» sicherstellen können. Ausdrücklich ausgenommen sind alle Aktivitäten im Zusammenhang mit der «Gender-Ideologie» oder der Familienplanung, ein Tribut an die fundamentalistischen Abtreibungsgegner. Ausserdem wurde USAID Rubio direkt unterstellt.
Doch ob sich die USA auch langfristig humanitär engagieren werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt offen. Die Krise der amerikanischen Entwicklungshilfe hat direkte Auswirkungen auf das strategische Umfeld Europas: insbesondere auf die Länder südlich der Sahara. Es sind drei grundsätzliche Szenarien denkbar:
- China rückt vor: Die USA als Wertepartner der europäischen Staaten fallen aus. Peking schliesst die Lücke, die USAID hinterlässt. Das chinesische Engagement könnte den Migrationsdruck vermindern, würde aber den Einfluss des «kommunistischen Kapitalismus» weltweit erhöhen. Das wäre ein Paradigmenwechsel, der Europa ideell und finanziell herausfordern würde. Sollten die EU und die europäischen Staaten ihren Einsatz im globalen Süden erhöhen oder die Region China überlassen?
- Europa erwacht: Brüssel übernimmt einen signifikanten Teil der amerikanischen Ausgaben in den strategisch bedeutenden Regionen von Westafrika bis Pakistan. Die EU erhielte als Akteur mehr Glaubwürdigkeit, könnte die Demokratie unterstützen und hätte mehr Einfluss, die Migrationsbewegungen in den Herkunftsgebieten zu steuern. Bereits nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine erhöhte die EU ihr humanitäres Engagement südlich der Sahara.
- Europa wird erpresst: Weder Peking noch Brüssel reagieren aktiv auf den amerikanischen Rückzug. Russland und die USA erpressen Europa in politischen und wirtschaftlichen Fragen mit der Drohung, je nachdem eine Fluchtbewegung auszulösen. Moskau kontrolliert unterdessen weite Teile Malis, Burkina Fasos und Nigers. Dazu steht Russland mit dem libyschen General Haftar ein Verbündeter an der Mittelmeerküste bereit, der sein Gebiet rund um Benghasi als logistische Drehscheibe für den zynischen Handel mit Menschen auf der Flucht zur Verfügung stellen könnte.
Europa steht bei der Entwicklungszusammenarbeit damit vor einer ähnlichen Herausforderung wie bei der Nato: Die USA drohen als verlässlicher Partner auszufallen.
Diese Zusammenhänge müssten die europäische und die schweizerische Politik aufschrecken: Die Soft Power der Auslandhilfe und der Schutz der eigenen Souveränität sind unmittelbar miteinander verbunden. Zu einer integralen Sicherheitspolitik gehören humanitäres Engagement ebenso wie militärische Mittel. Die Finanzierung gegeneinander auszuspielen, hilft den Gegnern einer regelbasierten Ordnung.
Die USA werden mit ihrem Vorgehen gegen USAID den eigenen globalen Einfluss weiter schwächen. Auch in Kosovo reichte die militärische Stärke der Nato alleine nicht, um die Bevölkerung nachhaltig mit dem Westen zu verbünden: Die Notrationen zum nackten Überleben standen für ein Versprechen, das weit über die Befreiung hinausging – die Hoffnung auf einen echten Frieden in Wohlstand.