Indien kauft Erdöl und Waffen aus Russland, versöhnt sich mit China und ist gleichzeitig ein enger Verbündeter der USA. Ein Widerspruch? Nicht für Indien.
Man hätte annehmen können, mit dem Kauf von massenhaft Rohöl aus Russland überspanne Indien den Bogen. Seit Russland wegen seines Angriffskriegs scharfe Sanktionen auferlegt wurden und russisches Erdöl nicht mehr nach Europa verkauft werden darf, springt Indien in die Lücke. Der südasiatische Riese hat vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs so gut wie kein russisches Rohöl importiert. Nun hilft Indien mit, Russlands Krieg zu finanzieren.
Indien hat in den letzten drei Jahren ein lukratives Geschäftsmodell entwickelt: Die Raffinerien kaufen günstiges russisches Erdöl, verarbeiten dieses zu Diesel und Benzin und exportieren die Treibstoffe nach Europa. Einzig China kauft noch mehr Öl aus Russland, vorwiegend für den Eigengebrauch.
Nur ist China kein Verbündeter der USA, sondern der Hauptrivale. Seit Xi Jinping dem russischen Machthaber Vladimir Putin zugesichert hat, dass Pekings Partnerschaft mit Moskau keine Grenzen kenne, wirkt die Gefahren-Kulisse noch bedrohlicher.
Indien unterläuft die westlichen Sanktionen
Indien dagegen ist in den letzten Jahren geopolitisch näher an das amerikanische Lager gerückt. Die USA umwerben Indien, weil es helfen soll, China militärisch und technologisch einzudämmen. Auch Indien fühlt sich seit der Eskalation der Grenzstreitigkeiten 2020 vermehrt wieder von China bedroht und sucht die Nähe zu den USA.
Inzwischen nähern sich China und Indien einander an. Gleichzeitig unterläuft Indien die westlichen Sanktionen mehrfach. Nebst Öl kauft Indien Waffen aus Russland, wie schon früher. Der Überfall auf die Ukraine hat auf dem Subkontinent kein Umdenken bewirkt.
Erstaunlicherweise kritisiert das im Westen kaum jemand lautstark – ausser der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. Er wirft Indien unmoralisches Handeln vor. In der grössten Demokratie der Welt lässt man sich auf dem Weltparkett allerdings weniger von hehren Werten leiten. Vielmehr bestimmen geopolitische Sachzwänge und Eigeninteressen die indische Aussenpolitik.
Dabei achtet Indien genau darauf, immer nur so weit zu gehen, dass es weder Russland, China oder die USA zu stark verprellt. Mit dem Rohöl-Geschäft hat Indien gegenüber dem Westen Grenzen getestet. Doch von Anfang an war klar: Nicht nur Indien profitiert davon, wenn russisches Rohöl nicht vom Markt verschwindet. Auch der Westen hat ein grosses Interesse daran, dass die Preise für Benzin und Diesel nicht in die Höhe schnellen.
Der Westen braucht Indien mehr denn je
Es klingt zynisch, aber günstiges Rohöl, das über Indien als Benzin im Westen endet, ist Benzin, das nicht als günstiger Treibstoff in China verbrannt wird. Indien bildet eine Konkurrenz zu China.
Der Westen braucht Indien auch als Absatzmarkt für Waren, die China inzwischen nicht mehr von den Europäern und Amerikanern kauft, sondern selber herstellt. Und nicht zuletzt wäre es militärisch für den Westen fatal, wenn sich Indien der russisch-chinesische Achse annähern würde, weil man Indien für sein «amoralisches» Handen bestraft.
Indien meistert den Hochseilakt im Spannungsfeld zwischen Russland, China und den USA meisterhaft. Zu jedem dieser Länder hat es anspruchsvolle bis angespannte Beziehungen. Mit allen drei Ländern gibt es Abhängigkeiten. Gleichzeitig muss sich Indien zu den jeweiligen Verhältnissen positionieren, die sich wiederum zwischen den USA und China, den USA und Russland und zwischen Russland und China entwickeln.
Muqtadar Khan, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität von Delaware, bezeichnet Indiens Aussenpolitik treffend als ein Austarieren dieser strategischen Abhängigkeiten. Indien spricht lieber von «strategischer Autonomie in einer multipolaren Welt», was angesichts der Sachzwänge, denen Indien unterworfen ist, etwas selbstbewusst formuliert ist.
Indien zeigt aber, dass ein Land sich trotz diesen Sachzwängen ein hohes Mass an Autonomie bewahren kann und so das beste für sich herausholt. Es kauft Erdöl und Waffen aus Russland. Es nähert sich Peking an, importiert aus China Elektronik und lockt chinesische Investoren ins Land. Und bald will Premierminister Narendra Modi wieder in die USA zu Donald Trump reisen. Er wird dort kaum Schelte erhalten. Eher wird man ihm den roten Teppich ausrollen.