Die wunderschöne «Veglia Stiva Grischuna» in Disentis ist ein Hort der Bündner Kochtradition. Fürs Dessert aber wechseln wir zu den Patern.
In den Sportferien zieht es viele Unterländer in die Bündner Berge, um auf Skipisten dem Schmerbauch entgegenzuwirken und ihn sich abends wieder vollzuschlagen. Kostspielig wird dieses Unterfangen im Schloss Schauenstein in Fürstenau beim Superstar der hiesigen Branche: Andreas Caminada ist aber auch ein Botschafter der bäuerlich geprägten Küchentradition seines Heimatkantons, die er in der preisgünstigeren «Casa Caminada» pflegen lässt, von Capuns bis zu Dörrbirnen-Ravioli.
Wir aber machen uns in der gastronomisch wie landschaftlich reizvollen Surselva auf die Suche nach einheimischer Kost. Fündig werden wir in keinem Gourmetlokal, sondern in der «Veglia Stiva Grischuna» in Disentis, einer Zeugin der bewegten Vergangenheit dieses Dorfs. Da gab’s zum Beispiel 1799 den Franzoseneinfall, basierend auf dem gloriosen Einfall Napoleons, das strategisch wertvolle Gebiet zu besetzen. Die Bündner vergalten es den fremden Fötzeln mit einem beispiellosen Massaker in Disentis, wofür sich die Franzosen wiederum mit der Einäscherung des Klosters samt Dorf rächten. Das Gasthaus blieb als eines der wenigen Gebäude vom Brand verschont, wurde aber dennoch bald darauf neu errichtet, mit Anleihen beim Bauernrokoko.
Wir betreten die «Alte Bündnerstube» mit Butzenscheiben und Specksteinofen, die in dunklem Holz samt 220-jähriger Decke unerhört heimelig wirkt. Seit genau vierzig Jahren ist sie in Besitz des Ehepaars Hanny und Norbert Maissen-Hänggi, seit 2021 ist mit Flurina und Michael Häsch-Maissen die nächste Generation am Ruder. Gekocht wird mit Zutaten aus dem Kanton, vom Safran aus der Herrschaft bis zum Lamm aus dem Misox.
Uns interessiert weder das Chateaubriand (Fr. 60.50), das zu sehr nach Franzoseneinfall klingt, noch das Fondue (Fr. 32.50), wenngleich es von einem Käser der Umgebung stammt und mit eingelegten Birnen serviert wird. Unsere Augen richten sich vielmehr auf das Kapitel «Grossmutter’s Küche» (wobei die Oma den falschen Apostroph sofort getilgt hätte). Da finden sich zwischen Pulenta und Bizochels die Capuns, die sich als köstliche Vorspeise (Fr. 12.–) erweisen: Die Mangoldblätter, die den Spätzliteig umhüllen, sind knusprig gebacken, mit Blüten beschneit und schwimmen in schmackhaftem Sud.
Gross ist die Vorfreude auf die mit etwas Bergkäse servierten Maluns (Fr. 22.50), übrigens eine Leibspeise der Spitzenköchin Zizi Hattab, wie sie uns kürzlich erzählt hat: Dieses für die Cucina povera typische Restengericht hat die spanisch-marokkanische Chefin des Zürcher «Kle» in einem Praktikum bei Caminada kennengelernt. Seinem Rezept ist zu entnehmen, dass gekochte Kartoffeln zwei Tage lang gelagert, dann zerbröselt, mit Mehl gemischt und in Butter goldgelb gebraten werden – die Bündner Version der Rösti sozusagen. Dass sie an diesem Abend etwas trocken geraten sind, wird mit dem traditionell dazu gereichten Apfelmus abgefedert, das es in sich hat: Das Obst wird leicht caramelisiert und nach dem Pürieren mit Butter aufmontiert.
Enttäuschend fällt die Dessertkarte aus, gerade in einem Kanton mit so famoser Zuckerbäckertradition. Crème brûlée oder Glace der Berner Marke Giolito gibt’s auch im Unterland. Wir begnügen uns mit einem Gläschen Bündner Röteli (Fr. 7.50), der es ins «Kulinarische Erbe der Schweiz» geschafft hat. Dieser Likör, geschmacklich wie farblich von gedörrten Kirschen geprägt, wird in einer ausgezeichneten hausgemachten Version ausgeschenkt.
Unseren Hunger nach Süssgebäck werden wir dort stillen, wo wir diese Nacht verbringen: Das Benediktinerkloster hoch über dem Dorf bietet im Haupthaus 18 grosse, komfortable Doppelzimmer – mit getrennten Betten, wie es sich für einen solchen Ort gehört. Unser Raum ist mit «St. Adalgott» angeschrieben, wohl zu Ehren des Abts, der dieser Gemeinschaft vor rund tausend Jahren vorstand.
Verbundener als ihm fühlen wir uns allerdings dem quicklebendigen Bruder Gerhard Alig, er führt nämlich die Klosterbäckerei. Seine erstklassigen Ergebnisse finden sich im Laden zwischen Rosenkränzen (ab Fr. 15.–), von verführerischen Totenbeinli – buttrig statt trocken – über saftiges Birnenbrot bis zu feinster Bündner Nusstorte. Deren quadratische Form folgt nach Auskunft eines Paters keiner religiösen Symbolik, es sei einfach ein «Werbegag», den ein ehemaliger Mitbruder aus der Werbebranche vorgeschlagen habe. Die katholische Kirche hat gute Reklame nötiger denn je, und eine bessere als diese Backwaren ist kaum zu erhalten.
Restaurant Veglia Stiva Grischuna
Via Cavardiras 3, 7180 Disentis
Dienstags geschlossen.
Telefon 081 947 52 36
Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.
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