Gaza lag einst auf einem geschäftigen Handelsweg. Im 20. Jahrhundert wurde es zum Symbol des palästinensischen Nationalismus.
2,2 Millionen Palästinenser verlassen den zerstörten Gazastreifen. Amerika nimmt das Gebiet in Obhut, lässt die Trümmer wegräumen und baut eine luxuriöse Riviera an der Südküste des Mittelmeers. Einen Ort für Wohlhabende aus aller Welt. Präsident Trumps Vision wirkt nicht nur auf den ersten Blick verrückt.
Der zweite Blick in die Geschichte Gazas zeigt: Diese historische Landschaft war die längste Zeit kein isolierter, überbevölkerter Uferabschnitt, sondern ein wichtiger Handelsplatz. Und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Gazastreifen durch Krisen und Kriege zu einem zentralen Bezugspunkt des palästinensischen Nationalismus. Er ist so etwas wie das «Rütli» der Palästinenser. Sie werden es nie freiwillig aufgeben.
In einem wesentlichen Punkt hat Präsident Trump freilich recht. Um dieses Gebiet zu entmilitarisieren und aus der Fuchtel der Hamas zu befreien, muss ein Plan zum Wiederaufbau her. Aber er kann nicht ohne, sondern nur mit den Palästinensern funktionieren.
Angenehmes Klima, freundliche Bewohner
Bevor diese Region zum «Streifen» wurde, war sie lange eine strategisch bedeutende Verbindung für den Handel zwischen Ägypten und der Levante. Von Reisenden wurde sie geschätzt wegen ihrer Karawansereien und der kühlen Oase, des Wadis Gaza, wie der französische Historiker Jean-Pierre Filiu schreibt. Im 12. Jahrhundert v. Chr. dehnte sich ein Städtebund von Gaza nach Norden ins Gebiet des heutigen Israel. Die dort ansässigen Philister gerieten immer wieder in Konflikt mit jüdischen Stämmen. Darauf nimmt die biblische Geschichte von David und Goliath Bezug.
Im 4. Jahrhundert v. Chr. war Gaza Schauplatz einer Belagerung durch Alexander den Grossen. Sowohl der Mazedonier als auch die eingeschlossenen Perser gruben – wie später die Hamas – Tunnel in den lockeren Boden, um den Gegner zu überlisten. Immer wieder wechselte das Gebiet die Hand: Es kamen und gingen Mamluken, Mongolen und Kreuzfahrer.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts schliesslich wurde Palästina dem Osmanischen Reich einverleibt. Es folgte eine Zeit der Blüte. Europäische Reiseschriftsteller lobten das angenehme Klima an der Küste, die Flora und die gastfreundlichen Bewohner.
Die Vorgeschichte zur Gegenwart, die symbolische Aufladung Gazas zum «Piemont» des palästinensischen Nationalismus beginnt vierhundert Jahre später mit der Niederlage der Türken im Ersten Weltkrieg.
Der Völkerbund übergab Grossbritannien 1922 die Vollmacht zur Verwaltung Palästinas. Es ist ein Land, in dem der Konkurrenzkampf bereits begonnen hat: zwischen dem Zionismus der einwandernden Juden und dem Nationalismus der ansässigen Palästinenser. Gaza selber ist davon vorerst wenig betroffen. In Jaffa aber kommt es 1921 erstmals zu Ausschreitungen gegen Juden.
Gaza wird zum «Inkubator» der Nation
Zwischen 1936 und 1939 wird Gaza erstmals zum Zentrum der palästinensischen Nationalbewegung, als die arabische Bevölkerung gegen die britische Mandatsmacht aufsteht. Mit der Gründung Israels 1948 verändert sich dann alles. Ihr ging der Teilungsplan der Uno voraus, der die Ansprüche der palästinensischen und der jüdischen Nationalbewegung hätte versöhnen sollen. Gaza war dem palästinensischen Teil zugeschlagen worden.
Doch der Plan scheitert: Die Palästinenser und die arabischen Staaten lehnen ihn ab. Kaum hat David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeit Israels erklärt, greifen die Araber an. Ägypten besetzt Gaza-Stadt, seine Truppen stossen dreissig Kilometer nach Norden vor, bevor sie von der israelischen Armee gestoppt werden.
Auch sonst erweist sich die arabische Allianz den israelischen Truppen als unterlegen. Schon im Januar 1949 steht der Sieg des jungen Staats fest. Aber nicht nur die feindlichen Armeen sind geschlagen. Über 700 000 Palästinenserinnen und Palästinenser sind vertrieben worden oder vor den Kämpfen geflüchtet. Im palästinensischen Gedächtnis heisst das kollektive Trauma «Nakba», Katastrophe.
Mit dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und Ägypten 1949 wird jener Gazastreifen Realität, den wir kennen. Ein dicht besiedeltes, unterentwickeltes Gebiet, das neben den 80 000 Bewohnern auf einen Schlag 200 000 Flüchtlinge aufnehmen muss: ein Streifen Land, eingezwängt zwischen Meer und Wüste und abgeschnitten von dem, was einst Palästina war und jetzt Israel heisst.
Die Lage der Bevölkerung ist katastrophal, es fehlen Infrastruktur und die Versorgung mit Lebensmitteln, die Kindersterblichkeit nimmt mit jeder Woche zu. Ägypten, die Besetzungsmacht, ist überfordert oder gleichgültig. So schafft die Uno ein eigenes Hilfswerk für die Palästinenser (die spätere UNRWA). Zudem entscheidet die Vollversammlung, dass alle Vertriebenen und ihre Nachkommen das Recht auf Rückkehr haben.
Ben-Gurion ist klar, dass hier ein Krisenherd entsteht. Er schlägt noch im gleichen Jahr einen Handel vor: Gaza soll von Israel annektiert werden, dafür dürfen 100 000 Vertriebene in ihre Häuser zurückkehren. In Israel wird er scharf kritisiert, die arabischen Staaten lehnen ab. Was Ben-Gurion befürchtet, tritt ein: Gaza wird zum «Inkubator des palästinensischen Nationalismus», wie Filiu es ausdrückt.
Angriff und Vergeltung – das Muster etabliert sich
In den 1950er Jahren beginnen Freischärler, sogenannte «Fedayin», mit Unterstützung Ägyptens zivile und militärische Ziele in Israel anzugreifen. Die israelische Armee schlägt mit harten Vergeltungsschlägen zurück, die oft ein Mehrfaches an Opfer fordern.
Damit ist ein blutiges Muster etabliert. Es erreicht siebzig Jahre später den Höhepunkt: mit der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden israelischen Zerstörungskrieg. Es ist auch kein Zufall, dass es geflüchtete Fedayin aus Gaza sind, die Ende der 1950er Jahre in Kuwait die PLO gründen.
Nach dem Triumph des Sechs-Tage-Krieges besetzt Israel 1967 den Gazastreifen, und jüdische Siedler nehmen etwa einen Fünftel des Landes in Besitz. Eine vier Jahre lang schwelende palästinensische Revolte schlägt General Ariel Sharon schliesslich nieder.
Die Wut und Aussichtslosigkeit im Küstenstreifen, der mit der jüdischen Besiedlung noch beengter wurde, macht sich 1987 in der ersten Intifada Luft. Der Funke entzündet sich in einem Flüchtlingslager und springt von dort auf das Westjordanland über. Arafat akzeptiert nach dem Abflauen der Kämpfe erstmals die Zweistaatenlösung.
Darauf hat sein Gegenspieler in Gaza nur gewartet. Der Anführer der Muslimbrüder, Scheich Yassin, wirft ihm sofort Verrat an der Befreiung Palästinas vor und gründet die Hamas. Der palästinensische Widerstand ist jetzt auch islamistisch.
Ministerpräsident Netanyahu, 1996 zum ersten Mal im Amt, spielt seither die beiden Bewegungen geschickt gegeneinander aus und verfolgt seit Jahren erfolgreich das Ziel, eine Zweistaatenlösung zu verhindern.
Der Friedensprozess schläft nach dem Scheitern der Osloer Verträge 1993 ein, die radikale Hamas erhält Zulauf. Arafats Palästinenserbehörde erscheint vielen Jungen als schwach und korrupt. Nach einem provokativen Besuch des Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg lanciert die Hamas eine rücksichtslose Terrorkampagne in Israel. Die zweite Intifada bricht aus. Nach ihrem Ende 2005 setzt Sharon, inzwischen Ministerpräsident, den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen durch. Die Hamas erklärt sich umgehend zum Sieger und gewinnt ein Jahr später die Wahlen.
Seither ist Gaza unter der eisernen Kontrolle der Hamas, die Hunderte von politischen Rivalen aus dem Weg räumt. Die USA und die EU boykottieren die Bewegung und setzen sie auf ihre Terrorlisten. Israel schnürt das Gebiet ab und reduziert mit periodischen Luftangriffen die militärische Bedrohung aus dem Gazastreifen. «Rasenmähen» nennen die Experten diese Taktik. Es schien, wie Filiu schreibt, als ob die 2,2 Millionen Palästinenser aus der demografischen Gleichung zwischen der jüdischen und der palästinensischen Bevölkerung verschwunden seien. Bis zum 22. Oktober 2023.
Jean-Pierre Filiu, L’Histoire de Gaza, Hachette Pluriel Reference 2015. 600 S.







