Seitdem sie siebzehn ist, trägt unsere Autorin Lippenstift – es ist ihr geheimer Trick. Wieso Frauen ihre Lippen schminken.
Vor ein paar Wochen hatte ich Geburtstag. Auf dem Frühstückstisch lag ein rechteckiges Päckchen mit einer Schleife darum, es war von meinen beiden besten Freundinnen. Ich entfernte das Papier, zum Vorschein kam eine goldene Schachtel, darauf prangte verheissungsvoll das Chanel-Logo. Meine Freundin Carla strahlte mich über den Tisch hinweg an und sagte: «Wir fanden, du brauchst diesen Lippenstift einfach!»
Später am Nachmittag trugen wir ihn ehrfurchtsvoll zum ersten Mal auf. Die rote Farbe fühlte sich kräftig und weich zugleich an, mein Lächeln wurde noch breiter, wir schossen gemeinsam Polaroid-Fotos von unseren leuchtenden Mündern. Ein paar Tage nach meinem Geburtstag fuhr ich zu meiner Mutter, um mit ihr nachzufeiern. Als ich das erste Geschenk auspackte, musste ich lachen. Auch sie hatte mir einen Lippenstift geschenkt, in einem glitzernden Beeren-Ton. Ich freute mich über beide Farben.
Die Lippen schminken, um sichtbar zu sein
Seitdem ich siebzehn bin, trage ich regelmässig bunte Lippen. Das fing an in einer Phase, in der ich mich oft zurückzog und morgens schon erschöpft erwachte mit dem Gefühl eines schweren Gewichts auf meiner Brust. Ich erinnere mich an einen heissen Sommernachmittag, an dem ich weinend einer Freundin gegenübersass. Irgendwann unterbrach sie mein Schluchzen, indem sie sagte: «Du hast dich immerhin entschieden, roten Lippenstift aufzutragen. Es kann nicht alles schlecht sein.»
Von da an schminkte ich meine Lippen besonders dann, wenn es mir nicht gutging. Das Ritual erinnerte mich stets daran: Ich bin da, ich bin lebendig, und ich kann Entscheidungen treffen.
Blicke ich zurück auf die Geschichte des Lippenstifts, die bis ins alte Ägypten und damit zur All-time-Schönheitsikone Kleopatra zurückreicht, erkenne ich, dass viele Frauen vor mir aus ähnlichen Gründen ihre Lippen geschminkt haben: um sichtbar zu sein.
Das deutlichste Zeichen für den emanzipatorischen Einsatz des Make-up-Utensils setzten die Suffragetten. Als sie 1912 in New York für das Frauenwahlrecht demonstrierten, taten sie das mit knallroten Mündern und schenkten dieser Form, sich zu schminken, über den Atlantik hinweg eine neue Bedeutung. Während Lippenstift bis dato vor allem mit Prostituierten und Showgirls in Verbindung gebracht worden war, war das Tragen roter Lippen von da an ein Zeichen von Unerschrockenheit, Selbstbestimmung und weiblichem Zusammenhalt.
Mit der Wahl des Lippenstifts entscheide ich, wie der Tag werden soll
All diese politischen und feministischen Bedeutungsebenen kannte ich mit siebzehn nicht, aber unbewusst habe ich gemerkt, dass mehr dahintersteckt als nur Schminke. Mein mit Lippenstift bemalter Mund war ein Zeichen dafür, mich vor Aufmerksamkeit nicht zu scheuen, sie bisweilen sogar aktiv zu suchen.
Allerdings betont Lippenstift nicht einfach nur einen Teil des Gesichts, sondern er lenkt mit dem Markieren des Mundes auch die Aufmerksamkeit auf das Sprechen. Forscher der Universität Manchester fanden heraus, dass Menschen, die ihre Lippen rot tragen, die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers ganze 7,3 Sekunden länger fesseln als Ungeschminkte.
Die stärkere Beachtung von Rotlippigen – und auch dessen, was sie zu sagen haben – mag sogar dazu führen, dass sie, so zeigen es die Ergebnisse einer Harvard-Studie, im Job als präsenter, zuverlässiger und kompetenter wahrgenommen werden.
Je mehr ich über Lippenstift lernte, desto lieber trug ich ihn auf. Es macht mir Spass, diesen sichtbaren und doch geheimen Trick zu nutzen. In jeder meiner Taschen trage ich die Lippenschminke mit mir herum, immer dazu bereit, sie herauszukramen und mich der Magie der Farbe zu bedienen.
Kein anderer Akt des Schminkens ist in der Öffentlichkeit so akzeptiert wie das Aufragen von Lippenstift. Anders als Wimperntusche, Concealer und Augenbrauen-Gel, die kaum das heimische Badezimmer verlassen, mimen wir mit Lippenstift keine Natürlichkeit, sondern wir spielen mit der Betonung. Das zeigt sich schon im kleinen Alltagsschauspiel, mit dem die Lippen nachgezogen werden. Dieser Akt birgt Freude für sich: ein bisschen Provokation, ein bisschen Dekadenz, ein bisschen Schauspiel.
Zu meinem Geburtstagsgeschenk passt das Coco-Chanel-Zitat perfekt: «Wenn Sie traurig sind, tragen Sie Lippenstift auf, und greifen Sie an!» Bis heute bedeutet Lippenstift aufzutragen für mich auch, eine Rüstung anzulegen, eine hauchdünne Schutzschicht zwischen mich und die Welt zu schieben.
Mit der Farbe bedecke ich mich und entscheide, wie ich an diesem Tag wirken will. Gutgelaunt mit heller Beere, betont selbstbewusst mit knalligem Korallenrot, ein wenig mysteriös mit einem lila glitzernden Ton. Auch jetzt, während ich diese Zeilen tippe, in Adidas-Hose, allein an meinem Schreibtisch, habe ich geschminkte Lippen – in einem tiefen Rot. Jetzt dürfen Sie selbst deuten.
Lippenstift in Krisenzeiten
Lippenstift stärkt die weibliche Moral – dieses Narrativ überdauert die Zeit. Im Zweiten Weltkrieg etwa trugen viele Amerikanerinnen die Farbtöne «Victory Red» und «Patriot Red» auf ihren Lippen, um ihren Durchhaltewillen zu zeigen. Anstatt in Krisenzeiten zu verschwinden, haben die bunten Kosmetika gerade dann Konjunktur.
Das in den Wirtschaftswissenschaften Lipstick-Effekt genannte Phänomen besagt, dass die Nachfrage von alltäglichen Luxusgütern wie etwa Lippenstiften in Zeiten von Krisen und Inflation steigt. Zu beobachten war dies bereits während der grossen Wirtschaftskrise in den USA der dreissiger Jahre, aber auch nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.
Der Anstieg von rot betonten Lippen in Krisenzeiten, die Suche nach Anmut im Angesicht von Schrecken und Angst, die Selbstvergewisserung durch die eigene Verschönerung, das bisschen Sinnlichkeit, das wir der Schwere entgegensetzen, zeigen die besondere Schönheit und den Reiz von Lippenstiften.
Ihr Luxus liegt, trotz kussechten Kollektionen, besonders in der Vergänglichkeit. Wir hinterlassen Lippenstiftspuren an Weingläsern und Kaffeetassen oder an den Wangen unserer Liebsten, lecken sie uns beim Mittagessen von den Mündern und tupfen sie mit Kosmetiktüchern weg.
Lippenstifte sind nicht notwendig für meinen Alltag. Ich brauche sie nicht, aber ich will sie, die Farbe in meinem Gesicht, die Nonchalance zwischen Betonung und Verkleidung, und manchmal will ich auch die Aufmerksamkeit, die ich mir damit erschleiche.
Und, so ehrlich muss ich sein, es muss nicht immer Chanel sein – aber mit Chanel macht mir die lustvolle Verschwendung einfach noch mehr Freude.