Die Ärzte am Zürcher Kinderspital brauchen ein feines Sensorium für Lügen. Im vergangenen Jahr haben sie so viele Misshandlungen wie noch nie entdeckt.
Das Baby ist erschöpft, die Arme hängen schlaff neben dem Körper. Im Brustkorb zeichnen sich bei jedem Atemzug die Rippen durch die Haut. Für Georg Staubli, Chefarzt am Kinderspital, ist sofort klar: Das Kind ist unterernährt. Er sagt den Eltern, das Kind brauche dringend einen Milchschoppen. Die Eltern reagieren wütend, sie weigern sich, dem Kind Flaschenmilch zu geben. Sie wollen das Kind ausschliesslich mit Muttermilch ernähren. Doch Staubli erkennt – davon bekommt das Kind zu wenig. Trinkt es weiterhin nur an der Brust der Mutter, könnte es sterben. Er sieht nur eine Lösung: Er ruft die Polizei. Das Kind wird unter Polizeiaufsicht ernährt – und wieder gesund.
Es ist einer von 530 Fällen von Kindsmisshandlung, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zürcher Kinderspitals im vergangenen Jahr entdeckt haben. Das sind fast zwei Fälle pro Tag – so viele wie noch nie. Vor zehn Jahren waren es noch lediglich 320 gewesen.
Staubli sagt: «Jeder Fall, den ich hautnah erlebe, berührt mich. Vor allem, wenn ein besonderes Machtgefälle besteht und ich sehe, dass sich das Kind nicht wehren kann.» Staubli ist Chefarzt der Kindernotfallstation und Leiter der Kinderschutzgruppe am Kinderspital Zürich. Ob die Anzahl Misshandlungen tatsächlich zugenommen habe, könne er nicht abschätzen, sagt Staubli. «Möglicherweise entdecken wir heute einfach mehr als früher.»
Den Lügen auf der Spur
Fälle wie jener des unterernährten Babys, bei dem Staubli Unterstützung der Polizei benötigte, sind selten: Acht Mal haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zürcher Kinderspitals im vergangenen Jahr die Polizei alarmiert. Das liegt im mehrjährigen Durchschnitt.
«Wir versuchen auf der Notfallstation eine Eskalation zu vermeiden», sagt Staubli. Zuerst versuchten sie, mit Kind und Eltern zu reden und herauszufinden, was genau vorgefallen ist. Mit der Zeit habe man ein gutes Gespür, ob Geschichten stimmten oder nicht, sagt Staubli. Wenn die Kinder reden könnten, lasse er diese den Vorfall selbst erzählen, daran könne er besser einschätzen, ob das Kind das Erzählte tatsächlich erlebte habe. «Wenn ein Kind dabei nur auf den Boden schaut oder weint, bin ich alarmiert», sagt der Kinderarzt.
Zudem gebe es auch körperliche Verletzungen, die ihn hellhörig werden liessen. Verletzungen, die nicht auf einen Sturz zurückgeführt werden können – zum Beispiel hinter den Ohren, im Intimbereich oder am Rücken. Auch überlege er stets, ob die erzählte Geschichte plausibel sei. «Wenn mir ein Vater erzählt, das zweijährige Kind sei mit den Rollschuhen umgefallen, macht mich das stutzig.» Zweijährige könnten im Normalfall noch nicht Rollschuhfahren.
Neben den körperlichen Verletzungen müssten die Ärzte und das Pflegepersonal auch auf Hinweise achten, die auf eine psychische Misshandlung des Kindes hindeuteten, sagt Staubli. Auffällig sei etwa, wenn Eltern ihr Kind auf der Notfallstation beschimpften, anstatt es zu umsorgen. «Wenn die Eltern bei uns ihr Kind beleidigen, ahne ich, wie sie zu Hause mit ihm reden», sagt Staubli. Denn normalerweise würden sich die Eltern auf der Notfallstation zusammenreissen.
Wichtig sei es, als Arzt in solchen Situationen ruhig zu bleiben. Es sei nicht zielführend, die Eltern direkt mit dem Verdacht zu konfrontieren, dass sie ihr Kind misshandelten. «Wir suchen die Kooperation mit den Eltern», sagt Staubli. «Wir wollen ja meistens dasselbe: dass die Situation zu Hause besser wird.» Gemeinsam mit dem Kinderarzt am Wohnort und der Mütter- und Väterberatung werde ein Plan erstellt, wie die Familie in den folgenden Wochen und Monaten begleitet und wie sichergestellt werden könne, dass es dem Kind gutgehe.
«Die meisten Eltern misshandeln ihre Kinder, weil sie überfordert sind», sagt Staubli. Da müsse man ansetzen. Die Eltern unterstützen. Ihn stört auch das von der Werbung vermittelte Bild der heilen, glücklichen Familie. «Kinder sind manchmal laut, sie schreien, und sie folgen nicht. Das kann überfordern.» Wichtig sei, dass Eltern sich eingestünden, wenn sie überfordert seien, und Hilfe annähmen.
Wenn das Team des Kinderspitals nicht an die Kooperation der Eltern glaubt, dann macht es eine Gefährdungsmeldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. Im letzten Jahr ist dies in 81 Fällen nötig gewesen. Wurde das Kind schwer verletzt, erstattet das Spital Strafanzeige. Das sei im vergangenen Jahr beispielsweise nötig gewesen bei einem Schüttelbaby. Das Kind wurde von einem Elternteil so stark geschüttelt, dass es im Spital den Verletzungen erlag.
In 89 Fällen blieb trotz Untersuchungen seitens des Kinderspitals unklar, ob eine Misshandlung stattgefunden hatte oder nicht. In solchen Fällen würden die Kinder und ihre Familien engmaschig nachkontrolliert, sagt Staubli, meist vom Kinderarzt am Wohnort.
Wenn die Mutter das Kind krank macht
Besonders schwer zu erkennen seien etwa Fälle des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms. Dabei handelt es sich um eine seltene Form der Misshandlung, bei der Mütter ihre eigenen Kinder krank machen oder verletzen, um sie dann wieder gesund zu pflegen. Sie tun das mutmasslich, um sich als besonders aufopfernde Mütter zu präsentieren und Lob und Aufmerksamkeit durch Ärzte, Spitalpersonal und die Familie zu bekommen. Meist haben diese Mütter selbst einen medizinischen Hintergrund und wissen genau, welche Medikamente sie ihren Kindern in welchen Dosen verabreichen müssen, damit sie krank wirken.
Im Kinderspital werden pro Jahr etwa ein bis drei solcher Fälle entdeckt. Staubli erinnert sich an ein Kind, das beim Gehen stark schwankte. Später habe sich herausgestellt, dass die Mutter dem Kind Schlafmittel verabreicht habe, damit es krank wirke. Typisch beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom sei, dass die Kinder gesund würden, sobald man sie von den Eltern trenne, sagt Staubli.
Bei all den Verdachtsfällen sei es aber auch wichtig, dass die Kinderärzte nicht zu früh urteilten, sagt Staubli. In 46 Fällen hatte sich bei näherem Hinschauen gezeigt, dass die Ursache der Verletzung harmlos war. Als Beispiel erzählt Staubli von einem Baby, das am ganzen Körper blaue Flecken hatte. Später habe sich herausgestellt, dass das Kind an einer Blutgerinnungsstörung leide. Es also bereits blaue Flecken bekommt, wenn man es ganz normal anfasst.
Beim Kinderspital entsteht ein Elternhaus
Wenn Kinder verunfallen, krank werden oder zu früh auf die Welt kommen, möchten die Eltern meist auch in der Nacht nahe bei ihnen bleiben. Weil die Übernachtungsmöglichkeiten im Zürcher Kinderspital beschränkt sind, ist das im Moment noch nicht immer möglich. Nun soll in unmittelbarer Nähe des Kinderspitals ein Elternhaus gebaut werden. Es soll vor allem Eltern von Kindern auf der Intensivstation und Neonatologie Platz bieten. Im Elternhaus wird es 20 Elternzimmer, eine Küche, Ess- und Spielzimmer sowie einen Garten mit Terrasse geben. Das Elternhaus ist ein gemeinsames Projekt der Eleonorenstiftung des Kinderspitals, Schweizerischen Epilepsie-Stiftung und der Ronald-McDonald-Kinderstiftung. Das Haus soll im Sommer 2026 bezugsbereit sein.