«Vilnius Poker» ist unerschöpflich in seinen Rätseln und schockierend im Wechsel von Hyperrealismus und Phantastik.
Als 1989 der Ostblock binnen weniger Monate in sich zusammenstürzte, erschien in Vilnius ein verstörender Roman, voll wilder Verzweiflung, höhnischer Anklage, Szenen entfesselter Gewalt und Pornografie. «Vilnius Poker», dieser skandalträchtige, dabei formal und sprachlich höchst anspruchsvolle Roman, wurde zum grössten Bucherfolg der litauischen Literaturgeschichte, die immerhin mehr als vier Jahrhunderte zurückreicht. Sein Verfasser Ricardas Gavelis, ausgebildeter Physiker und Mathematiker, war damals 39 Jahre alt und starb 2002 einen langsamen Trinkertod; in seiner Heimat war er verehrt als Ikone widerständigen Lebens und Schreibens sowie radikaler Erneuerer der Literatur.
Niemals hätte sein monumentaler Roman zu sowjetischen Zeiten erscheinen können, ist er doch eine einzige Verwerfung des sogenannten realen Sozialismus, eine niederschmetternde Expedition durch die sowjetische Verwaltungszone namens Litauen. In dieser hatte sich unter dem Druck der stalinistischen Obrigkeit ein eigener Menschenschlag entwickelt: Der «Homo lithuanicus», wie ihn Gavelis mit unverkennbar patriotischem Ingrimm kritisiert, ist es gewohnt, «sich zu fügen und zu verkaufen», «will nur nicht auffallen» und «sieht sich, gleich was er tut, ängstlich nach allen Seiten um: Vielleicht macht er etwas nicht richtig, vielleicht verärgert er jemanden».
Bizarre Klassengesellschaft
Das sowjetische Litauen schildert Gavelis als bizarre Klassengesellschaft, in der die kommunistischen Kader in einer eigenen Welt leben: Zu ihren Geschäften, Krankenhäusern hat niemand Zutritt ausser ihnen, eigene Verkehrsregeln sichern ihren Autos immer den Vorrang. Über das Land herrschen der Geheimdienst mit seinen Abertausenden Spitzeln und Schlägern, die willfährige heimische Nomenklatura, «RAH» genannt, das «Regierende Altersheim», und die russischen Oberaufseher, von denen einer der obersten sagt: «Die Litauer sind für uns nicht brauchbar, was wir brauchen, ist Litauen. Zum Wohl des Imperiums müssen wir sie ausschliesslich auf Grundlage des Russischen unterrichten.» Klingt bestürzend aktuell.
Der Roman changiert zwischen der exakten städtischen Topografie des Grauens, grellen Szenen wie aus einem Drogenrausch oder Albtraum, einem Krimi voller Rätsel, der Chronik des umfassenden zivilisatorischen Niedergangs. Es ist, als hätten sich der nüchterne Phantast Kafka, der magische Realist García Márquez, der unerschrockene Moralist Camus zu einem Gemeinschaftswerk getroffen, das zugleich Höllenfahrt, leidenschaftliche Suche nach Freiheit und Glück sowie existenzialistische Prüfung zu bieten hat.
Der Roman breitet seine immense Stofffülle in vier Kapiteln aus, alle in einem Oktober in den späten siebziger Jahren angesiedelt, mit vier Erzählern, die sich vielfach widersprechen, das Geschehen und den Charakter der Hauptfigur, des baumlangen Vytautas, aus verschiedenen Perspektiven zu deuten versuchen.
Das erste Kapitel wird von diesem selbst erzählt, einem «Veteranen der Lager», der mit siebzehn Jahren in den Gulag nach Sibirien deportiert wird und in acht langen Jahren kein einziges weibliches Wesen zu sehen bekommt. Als er nach Vilnius zurückkehrt, ist er fürs Leben gezeichnet, er fühlt sich von anonymen Handlangern der Macht verfolgt, von IHNEN, die ständig in sein Leben eingreifen, so dass er überall Zeichen ihres Wirkens wahrzunehmen glaubt, bis er dem Wahn verfällt, «dass alles auf der Welt für mich geschieht».
Gespensterstadt Vilnius
Er findet eine Stelle in der Staatsbibliothek, scheint wieder Fuss zu fassen, nicht zuletzt dank Irena, seiner ersten Frau, zu der er aber den Verdacht zu hegen beginnt, sie sei eine Agentin von IHNEN.
Wiewohl an Seele und Leib und gar an seinem Geschlechtsorgan versehrt, erobert er zahlreiche Frauen, die er keineswegs beglückt, sondern mit sich ins Unglück reisst. Mit monomaner Ausdauer ist er zu Fuss in Vilnius unterwegs, einer Gespensterstadt, die «eine grenzenlose, bedrückende Trübseligkeit gebiert». In den düsteren Gassen wanken die Trinker herum, prügeln sich Kleinkriminelle, die alte Stadt des Mittelalters verkommt zum stinkenden Slum, der von grauen Wohnkasernen und uneinnehmbaren Festungsbauten der Staatsmacht abgeriegelt wird.
In seinem inneren Monolog von 400 Seiten wird Vytautas von Erinnerungen ans Lager, schrecklichen Trugbildern, Visionen und Zwangsvorstellungen gejagt, bis er eine grauenhafte Gewalttat verübt und zum «Monster von Vilnius» wird.
In den drei nachfolgenden Kapiteln erscheint vieles, was aus dem Inneren von Vytautas erzählt wurde, in einem anderen Licht, auch dass er überhaupt jenen kannibalischen Mord an seiner Geliebten verübt hat, bestreitet schon der zweite Erzähler.
Dieser war als Erziehungswissenschafter tätig, bis die Partei ihn der Universität verwies, so dass er nun privat an seiner historischen Studie «Was ist der Arsch des Universums?» arbeitet, einem Werk, das zu verfassen seiner Meinung nach einzig Litauer qualifiziert sind. Eine Kollegin von Vytautas aus der Bibliothek gibt im dritten Kapitel ein wiederum ganz anderes Bild von Vilnius und «dem Monster»; sie ist eine «Tuteisa», wie in Vilnius jene Bewohner genannt werden, die eine unklare nationale Herkunft haben, und weil sie sich nie ganz in dieser Stadt zu beheimaten vermag, sieht sie manches schärfer.
Grandioses Meisterwerk
Aufklärung ins unklare, vieldeutige Geschehen bringt am ehesten der letzte Erzähler. Es handelt sich um einen einstigen Freund von Vytautas, der nach seinem Tod als Hund wiedergeboren wurde und schnüffelnd durch die Strassen und Gassen von Vilnius läuft, Toten und Lebenden begegnet und Schicksal wie Charakter der Zweibeiner an ihrem Geruch erkennt. Als Mensch habe er sich oft geirrt, gesteht er; um wirklich zu begreifen, «musste ich erst sterben und einige Jahre im Hundefell leben».
Was für ein Roman, unerschöpflich in seinen Rätseln, schockierend im Wechsel von Hyperrealismus und Phantastik! Ein ungebärdiges, von Claudia Sinnig grandios übersetztes Meisterwerk der europäischen Literatur.
Ričardas Gavelis: Vilnius Poker. Roman. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 687 S., Fr. 45.90.