«One Piece» ist die wohl erfolgreichste Manga-Serie. Der Zeichner und Autor Eiichiro Oda erzählt Abenteuer einer Schatzsuche. Und weckt damit rebellische Phantasien der disziplinierten japanischen Jugend.
Manchmal erscheint der Aufbruch in ein künstlerisches Abenteuer so unrealistisch wie ein Traum. Für den Manga-Zeichner Eiichiro Oda jedoch hat sich der Glaube an sich selbst gelohnt, er ist mittlerweile einer der grössten Stars der Manga-Kultur. Die Piratenserie «One Piece» des fünfzigjährigen Japaners erscheint seit 1997 wöchentlich im Manga-Magazin «Shonen Jump». Weit über tausend Kapitel sind mittlerweile erschienen. Und die 110 Sammelbände haben sich allein in Japan gut 400 Millionen Mal verkauft, weltweit gar eine halbe Milliarde Mal.
Damit ist «One Piece» die am längsten laufende Fortsetzungsgeschichte in der Manga-Welt. Kein Wunder, wurde die Saga unterdessen auch als Anime umgesetzt. Überdies zeigen sich die Piraten mit den Strohhüten äusserst kollaborationsfreudig, wenn es darum geht, im Sinne des Marketings die Mode- und Musikwelt zu entern.
Trotz dem enormen Erfolg scheint Eiichiro Oda keineswegs abgehoben. Vielmehr gibt er sich nahbar und leutselig, wie beispielsweise sein Engagement nach dem verheerenden Erdbeben in Kumamoto 2016 zeigte. Damals hat er den Wiederaufbau mit grossen Zuwendungen unterstützt. Dass zum Dank einige Statuen von «One Piece»-Charakteren errichtet und mit offiziellem Pomp eingeweiht wurden, zeigt seine Beliebtheit in Japan.
Ansteckende Vitalität
Was aber steckt hinter dem Phänomen «One Piece», das Kinder, Jugendliche und Erwachsene rund um die Welt vereint und in Japan gar mit einem eigenen Feiertag, dem «One Piece Day», geehrt wird? Im Zentrum steht Monkey D. Ruffy, begleitet von Verbündeten mit charakteristischen Fähigkeiten, die mit ihm den legendären Schatz «One Piece» suchen.
Ruffy versprüht eine elementare Vitalität, die man in Japan als «genki» bezeichnet. Sie wirkt über die zweidimensionale Welt hinaus ansteckend. Er hat einen Körper wie aus Gummi, was sich bei seinen Kämpfen als äusserst nützlich erweist und ihn sogar gegen Elektrizität immunisiert. Vor allem aber ist er mit Sorglosigkeit gesegnet. Dank seinem naiven Optimismus und seinem Mut verwirklicht er seine Träume, selbst wenn er dafür anfangs ausgelacht wird.
Sein Ziel ist es, Piratenkönig zu werden und selber den legendären Schatz «One Piece» zu finden. Da das nicht im Alleingang funktioniert, braucht er eine Crew. So beginnt der Aufbruch ins Abenteuer mit der Suche nach Gleichgesinnten – ein Thema, das den Erfahrungen seines mehrheitlich jugendlichen Publikums weltweit entspricht, weil es mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wird.
Erst recht im Alltag Japans, wo die schulische Uniformierung die Individualität relativiert und wo von den jungen Erwachsenen Fleiss und Disziplin erwartet wird. Hier weckt die anarchische Piratentruppe Träume eines Ausbruchs und die Lust auf Rebellion gegen strikte Konventionen.
Auf seiner Schatzsuche kann Ruffy auf die Unterstützung von Figuren wie der Kartografin Nami, dem Koch Sanji, dem Schwertkämpfer Roronoa Zoro, dem Bootsbauer Cyborg Franky und der mysteriösen Archäologin Nico Robin zählen. Gemeinsam durchqueren sie Meere und besuchen Inseln mit eigener Geschichte, Geografie und eigenem Zeitsystem. Je nach Insel dauern die Aufenthalte kurz oder aber mehrere Jahre.
Die Piraten müssen sich so immer wieder auf neue Welten einlassen. Ihre Erfahrungen und Begegnungen sind dermassen vielfältig, dass einem bei der blossen Aufzählung schwindlig werden könnte. Da gibt es unter anderem die Inseln des Winters, der Fischmenschen, der ehemaligen Ärzte. Und alle haben sie ein eigenes soziopolitisches System – mal dystopisch, mal utopisch, mal mit direkten Referenzen zur realen Welt. Die Vielseitigkeit und Offenheit zeichnet «One Piece» aus.
Die europäische Leserschaft mag die Häufigkeit queerer Charaktere überraschen – in Japan haben aber unter dem Label Yaoi romantische Manga für Jugendliche über Homo- und Transsexualität eine lange Tradition. Das Spiel mit Geschlechterrollen bietet eben einen offenen Blick auf die Welt der Erwachsenen und damit verbundene Erwartungen. Reaktionäre Politiker, die in einer Art regressiven Wahns Frauen für die Mutterschaft und Männer für die Rolle des Alleinernährers begeistern wollen, bieten der japanischen Jugend wenig Hilfe. Diese muss einen eigenen Weg aus den Trümmern der verschlissenen Hochkonjunktur in eine unstabile Zukunft finden.
Ostereier suchen
Eine Stärke von Eiichiro Oda liegt in der Fähigkeit, jeden Charakter, ob Freund oder Feind, mit einer packenden Hintergrundgeschichte auszustatten. Es gibt aber auch Figuren, die sich nur im Bildhintergrund durch das Universum der epischen Geschichte bewegen, um nur da und dort zufällig aufzutauchen. Das mag Uneingeweihten sinnlos erscheinen. Es erweist sich aber als Geschenk an die nerdigen Fans, die sich an solchen «Easter Eggs» erfreuen.
Durch persönliche Worte stärkt Eiichiro Oda das Community-Gefühl der Fans, die sich in den Social Media rege darüber austauschen. Der Erfolg von «One Piece» hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich der Charme der Zeichnungen dank den Fans auf die digitalen Sphären ausgeweitet hat.
Aber auch die analoge Wirklichkeit bietet besondere Zugänge zu «One Piece». Bald nämlich wird es möglich sein, buchstäblich ins Piratenabenteuer einzusteigen. Allerdings nicht per Schiff, sondern mit dem Zug. Ab Frühling 2025 verkehrt ein Shinkansen-Schnellzug mit Motiven aus der Serie durch ganz Westjapan.