Es ist umstritten, ob die Rad-WM im September erstmals in Afrika stattfinden können. Zur Frage, ob Aigle und Martigny für Kigali einspringen könnten, sagt ein Kantonalpolitiker: «Nichts ist unmöglich.»
Ende Januar hielt David Lappartient vor Funktionärs-Kollegen eine Bewerbungs-Rede, der Franzose möchte Präsident des Internationalen Olympischen Komitees werden. Er wünsche sich, sagte Lappartient in Lausanne, dass die Olympischen Spiele eines Tages in Afrika stattfänden, «Afrika verdient das». Der von ihm präsidierte Radsport-Weltverband UCI sei bekanntermassen schon so weit: Im September 2025 trage man die Strassenrad-Weltmeisterschaften in Rwanda aus.
Nur einen Tag später kamen Zweifel auf, ob Lappartient sein Wort halten kann. Die belgische Zeitung HLN berichtete gestützt auf mehrere Quellen, die UCI arbeite bezüglich der WM an einem Plan B, möglich sei eine Verlegung von Rwanda nach Aigle in der Schweiz. Grund ist der Bürgerkrieg in Kongo-Kinshasa, unmittelbar neben Rwanda, wo die Rebellengruppe M23 vor kurzem die Millionenstadt Goma eroberte. Laut einem Expertenbericht der Vereinten Nationen wird die M23 faktisch von der rwandischen Armee kontrolliert.
Wieder einmal zeigt sich am Beispiel Rwandas ein Muster des organisierten Sports. Im Bemühen, sich mit Grossanlässen Denkmäler zu errichten, sehen Funktionäre geflissentlich über Missstände in den Gastgeberländern hinweg. Erst, wenn öffentlicher oder politischer Druck aufkommt, folgen zögerliche Reaktionen.
Rwandas Situation war seit Jahren bekannt
Hinweise, dass Rwandas Langzeitherrscher Paul Kagame mithilfe der M23 zur Destabilisierung des Nachbarlandes beiträgt, gibt es seit Jahren. Auch sein repressiver Umgang mit Dissidenten ist gut dokumentiert. Dessen ungeachtet wurde Rwanda zuletzt von Sportveranstaltern vom Radsport über den Triathlon bis zum Tennis zur neuen Wunsch-Destination erkoren. Auch die Formel 1 könnte nach Rwanda expandieren. Dass in dem ursprünglich armen Staat zwar die Wirtschaft wächst, rechtsstaatliche Prinzipien aber wenig gelten, war lange Zeit praktisch kein Thema.
Im Falle der Rad-WM durchlebt die UCI nun die Phase des Beschwichtigens. Der Weltverband schreibt in einer Stellungnahme, dass sich der Konflikt auf Kongo-Kinshasa beschränke: «Rwanda bleibt für den Tourismus und die Wirtschaft völlig sicher.» Man hoffe auf eine rasche und friedliche Lösung. «Zum jetzigen Zeitpunkt» sei keine Verlegung des Anlasses geplant, weder in die Schweiz noch an einen anderen Ort.
Tatsächlich ist in Aigle bisher keine Anfrage eingegangen, kurzfristig einzuspringen. Man sei weder von der UCI noch von Swiss Cycling kontaktiert worden, sagt Grégory Devaud, Mitglied des Grossen Rates im Waadtland, zur NZZ. Er wünsche sich, dass die Strassenrad-WM wie geplant in Rwanda stattfinden könne. Zumal es angesichts der kurzen Zeit nicht einfach wäre, die Finanzierung zu sichern, wie er sagt. Bisher, bekräftigt Devaud, gab es darüber im Waadtland keinerlei Diskussion. Aber: «Wenn die UCI uns bittet, die Möglichkeit zu prüfen, machen wir das. Nichts ist unmöglich.»
Dass Devaud zumindest eine prinzipielle Verhandlungsbereitschaft signalisiert, könnte für die UCI viel wert sein, sollte sich der Konflikt in Kongo-Kinshasa erneut verschärfen. Zumal die Region Aigle-Martigny in jüngerer Vergangenheit bewiesen hatte, bei Bedarf flexibel zu sein.
2020 hätte die Strassenrad-WM im italienischen Vicenza stattfinden sollen, was kurzfristig an Finanzierungsproblemen scheiterte. Aigle und Martigny füllten die Lücke, der Kantonalpolitiker Devaud war seinerzeit Co-Präsident des Organisationskomitees. Wegen der Covid-Pandemie musste letztlich auch die Westschweiz auf den Anlass verzichten. Sollte die UCI nun erneut auf einen Plan B angewiesen sein, waren die damaligen Arbeiten von der Auswahl möglicher Strecken bis zur Konzeption begleitender Kampagnen möglicherweise doch nicht umsonst.
Radsport ist in Rwanda populär, das belegt die Begeisterung während der jährlichen Landesrundfahrt. Velos sind für viele Bürgerinnen und Bürger das wichtigste Verkehrs- und Transportmittel. Der Entscheid, die WM an das ostafrikanische Land zu vergeben, wirkt im ersten Moment alles andere als absurd. Auch Vertreter von Swiss Cycling zeigten sich nach einer Erkundungsreise im Herbst im verbandseigenen Podcast begeistert von den Strassenverhältnissen, dem abwechslungsreichen Parcours und der Gastfreundschaft.
Hinweggesehen wurde jedoch lange Zeit nicht nur über die diktatorischen Anwandlungen von Präsident Kagame, sondern auch über den lamentablen Zustand der professionellen rwandischen Radsport-Szene. Bereits im August 2023 war der Generalsekretär des nationalen Verbandes wegen Korruptionsvorwürfen festgenommen worden. Seinerzeit kursierten Berichte über Nachwuchsfahrer, die bei der Anreise zur WM 2023 in Glasgow vom Verband im Stich gelassen worden seien. Sie hätten die rwandische Botschaft bitten müssen, ihre siebenstündige Busfahrt zum Veranstaltungsort zu bezahlen, wo sie erschöpft und mit schlecht passendem Material zu ihren Rennen angetreten seien.
Rwandas Fahrer werden an den Titelkämpfen im eigenen Land kaum eine Rolle spielen. Der beste bei den Männern befindet sich in der UCI-Weltrangliste aktuell auf Platz 450. Diametral anders ist die Situation beispielsweise im ebenfalls ostafrikanischen und ebenfalls armen Eritrea, das mit Biniam Girmay einen der weltbesten Sprinter hervorgebracht hat.
Brandbriefe an Arsenal, PSG und Bayern München
Auch in anderen Sportarten entsteht unterdessen eine Debatte über den Umgang mit Rwanda. Das ist zumindest im Sinne von Kongo-Kinshasa. Deren Aussenministerin Thérèse Kayikwamba Wagner hat die Besitzer der Fussballklubs Arsenal und Paris Saint-Germain sowie Bayern Münchens Präsident Herbert Hainer in einem Brief aufgefordert, bestehende Sponsoring-Verträge aufzulösen. Alle drei Vereine werden von der Tourismus-Kampagne «Visit Rwanda» unterstützt.
Kayikwamba Wagner äussert den Verdacht, die Sponsorings könnten finanziert werden, indem Rohstoffe in ihrem Land illegal abgebaut, nach Rwanda geschmuggelt und von dort exportiert würden. Es sei an der Zeit, die Deals mit dem «unterdrückerischen Staat» zu beenden.
Auch kongolesische Fussballer wie der frühere Nationalspieler Youssou Mulumbu setzen die Klubs unter Druck, ihre Verbindungen nach Rwanda zu kappen. Die Vorwürfe aus Kongo-Kinshasa sind schwerwiegend, allerdings auch komplex. Ob sie Folgen haben, hängt von der Bereitschaft der Funktionäre ab, genauer hinzuschauen als in der Vergangenheit. Zumindest der FC Bayern hat angekündigt, die Situation vor Ort zu prüfen und anschliessend weitere Schritte zu besprechen. Wieder einmal zeigt sich: Die zunehmend aggressive Aussenpolitik eines Gastgeberlandes zu ignorieren, rächt sich für Sportfunktionäre früher oder später.