Russland fühlt sich in seinem Urteil über Selenski bestätigt und überzieht den ukrainischen Präsidenten mit Beleidigungen. Aber in die Erwartungen mischt sich auch Vorsicht. Mit einem schnellen Kriegsende rechnen die wenigsten.
Der Eklat im Weissen Haus zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, Präsident Donald Trump und Vizepräsident J. D. Vance gibt Russland Vorteile in die Hand. Das ist der Tenor fast aller russischen Reaktionen auf das denkwürdige Spektakel vom Freitagabend. Funktionäre, Propagandisten und zum Kreml loyale Experten sehen sich in ihrem Urteil über Selenski bestätigt – und auch in ihrer Einschätzung der neuen amerikanischen Administration und Trumps selbst.
In den Überlegungen spiegeln sich Zuversicht und Vorsicht gleichermassen: Die Hoffnung, die amerikanische Führung teile tatsächlich in sehr vielem die Weltsicht Russlands und werde nicht nur das bilaterale Verhältnis neu beleben, sondern auch den Krieg in der Ukraine zu für Moskau günstigen Konditionen zu beenden helfen, wird beflügelt. Aber zugleich bedeutet das nach der Ansicht vieler Kommentatoren vorerst noch keine schnelle Einstellung der Kämpfe, sondern eine Fortsetzung des Krieges.
Bestätigung für Verteufelung Selenskis
Selenskis Worte in Washington bekräftigten die russische Sicht, dass die Ukraine für den Krieg und dessen Fortdauer die Verantwortung trage und Selenski das Haupthindernis auf dem Weg zu einem Frieden sei. Besonders drastisch drückte sich die um undiplomatische Worte nie verlegene Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, aus.
In einer Pressemitteilung nannte sie Selenski – einmal mehr – «Anführer des neonazistischen Kiewer Regimes», dessen Vorgehen sie mit dem nationalsozialistischen Deutschland verglich, und einen «Terroristenführer»; er sei eine Gefahr für die gesamte Weltgemeinschaft. Dass er nach wie vor von europäischen Regierungen unterstützt werde, bezeuge nur deren moralische Verkommenheit und Schwäche. Nichts führe an der Ausmerzung der Ursprünge des Konflikts vorbei, nämlich der Zurückbindung der Nato, der «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» der Ukraine.
Sie, Putin und mit ihnen die gesamte russische Propaganda verteufeln Selenski praktisch seit seiner Wahl 2019 als drogensüchtig, unfähig und in seinem Benehmen völlig inadäquat. Seit vergangenem Jahr bezweifeln sie seine Legitimität, weil die Amtszeit offiziell ausgelaufen ist und im Krieg keine Wahlen durchgeführt werden. Aussenminister Lawrow sprach von ihm am Sonntag als «reinem Nazi» und «Verräter des jüdischen Volkes». Dabei sei er 2019 mit der Botschaft des Friedens und Ausgleichs gewählt worden. Aus russischem Mund ist das auch deshalb zynisch, weil Putin ihm nie eine Chance gegeben hatte, aus seinen damals in der Ukraine umstrittenen Friedensavancen überhaupt etwas zu machen.
Der Kreml äusserte sich am Wochenende zu den neuen Entwicklungen nicht. Aber Putin hatte Selenski schon zu Wochenbeginn in einem Interview eine «toxische Figur» genannt und suggeriert, Trump könnte mit der Forderung nach Neuwahlen in der Ukraine einen genehmeren Präsidenten – Putin nannte explizit den früheren Armeechef Saluschni – bekommen wollen. Das sei gar nicht so sehr in Russlands Interesse, behauptete der Kremlchef. Selenskis Festhalten an der Macht bedeute die weitere Schwächung der Ukraine, was Russland zugutekomme. Er erkenne in Trumps Wunsch dessen Ziel, zur Gesundung der ukrainischen Politik beizutragen. Das klang sehr scheinheilig. Natürlich bleibt es Russlands Ziel, Selenski aus dem Amt zu entfernen und sich die Ukraine politisch gefügig zu machen.
Vorteil gegenüber USA ausnutzen
Der Eklat im Weissen Haus ist für sie die Bestätigung ihrer Haltung. Auch der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew äusserte sich schadenfreudig darüber, dass Selenski «grausam abgekanzelt» worden sei. Der einflussreiche, zum Kreml loyale Aussenpolitikexperte Fjodor Lukjanow schrieb in der Zeitung «Kommersant», Selenski habe nicht verstanden, wie sehr sich die Zeiten in Washington geändert hätten. Er sei es gewohnt gewesen, sich alles erlauben zu können – weil er im Westen als der Gute wahrgenommen worden sei. Aber nun habe Trump die Rolle des klassischen Diplomaten übernommen, der vermitteln und den Krieg beenden wolle.
Die Ukraine und Europa seien jetzt aus dem Spiel. Nun könne definitiv direkt mit den USA über die Beendigung des Krieges verhandelt werden, meinten am Wochenende zahlreiche russische Kommentatoren. Trump werde wohl noch geneigter sein, sich russische Standpunkte im Konflikt zu eigen zu machen. Von diesem Vorteil gelte es zu profitieren. Dazu gehört gemäss den Kommentatoren auch das vorläufige Scheitern des amerikanisch-ukrainischen Abkommens über seltene Erden, das Putin bereits dazu verleitet hatte, sich als der noch attraktivere Partner für die Amerikaner anzubieten.
Lawrow nutzte in einem Interview mit dem Fernsehsender der Armee die Situation, um Trump und den Amerikanern weiter zu schmeicheln. Er lobte den Pragmatismus des amerikanischen Präsidenten, dessen «menschlichen Charakter», der es mit ihm interessant mache, und dessen aussenpolitisches Personal. Man sei sich mit Aussenminister Marco Rubio und dem Sicherheitsberater Mike Waltz in Riad einig gewesen, einander nichts vorschreiben zu wollen.
Europa wird zum Hauptgegner
Mit gemischten Gefühlen blicken russische Beobachter darauf, dass der Eklat im Weissen Haus den Graben zwischen den USA und einem Europa, das an der Unterstützung Selenskis und der Ukraine festhalte, weiter vertieft. Einerseits trägt das zur Schwächung Europas bei und könnte Russlands Einfluss auf den alten Kontinent erleichtern. Anderseits bedeutete eine solche Entwicklung auch unweigerlich eine grössere Schwierigkeit, den Krieg zu beenden.
Der kremltreue Politikwissenschafter Dmitri Suslow malte das Szenario an die Wand, wonach Russland und die USA als «verantwortungsbewusste Grossmächte» sich auf einen Frieden einigen, während die «zu wenig fähigen Europäer und Ukrainer» diese Verhandlungen und den Frieden zu torpedieren versuchen und den Krieg weiterführen. Die Mahnung, nicht zu früh mit dem Einsatz für den Kampf nachzulassen, ist in «patriotischen» Kreisen weit verbreitet. Immer deutlicher wird zugleich, dass Europa zum neuen Hauptfeind wird. Alle Tragödien der vergangenen 500 Jahre seien von Europa ausgegangen. Die USA seien nicht die Anstifter gewesen, behauptete Lawrow in dem Fernsehinterview am Sonntag.