Die Europäer versuchen dem Zerwürfnis zwischen Trump und Selenski die Wogen zu glätten. Eine informelle Staatengruppe könnte zum wichtigsten sicherheitspolitischen Format Europas werden.
Der Eklat zwischen Wolodimir Selenski und Donald Trump sowie seinem Vizepräsidenten J. D. Vance am Freitag in Washington hat die diplomatische Hektik in Europa zusätzlich befeuert. Die Erniedrigungen, die der ukrainische Präsident im Oval Office erdulden musste, animierten etliche EU-Regierungschefs zu Solidaritätsbekundungen für Selenski in den sozialen Netzwerken. Derweil stellte sich der britische Premierminister Keir Starmer an die Spitze der Bemühungen, den wohl tiefsten Graben zwischen Europa und den USA seit dem Zweiten Weltkrieg zumindest teilweise wieder zuzuschütten.
Königlicher Empfang für Selenski
Bereits einige Tage vor dem Eklat hatte Starmer Selenski und eine Gruppe europäischer Amtskollegen für Sonntag zu einem Gipfeltreffen in London geladen, um über die Zukunft der Ukraine und der Sicherheit in Europa zu sprechen. Starmer empfing Selenski mit einer ostentativen Umarmung und sicherte ihm seine anhaltende Unterstützung zu.
Gleichzeitig meldete sich der britische Premierminister telefonisch bei Trump, den er am Donnerstag bei seinem Besuch in Washington geschickt umgarnt hatte. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni telefonierten mit dem amerikanischen Präsidenten, um die Wogen zu glätten.
Teil der Bemühungen, den Riss zwischen Trump und Selenski zu kitten, war auch König Charles III. Nachdem Starmer dem sichtlich geschmeichelten Trump eine königliche Einladung für einen präzedenzlosen zweiten Staatsbesuch in Grossbritannien überreicht hatte, empfing der Monarch am Sonntagnachmittag auch den ukrainischen Präsidenten zu einem Treffen auf Schloss Sandringham.
Selenski, der sich in Washington hatte provozieren lassen, gab sich am Wochenende nüchterner und dankte den USA für die bisher geleistete Unterstützung. Nato-Generalsekretär Mark Rutte erklärte in London, es werde für den ukrainischen Präsidenten kein Weg an einer Aussöhnung mit Trump vorbeiführen.
Informelle Koalition
Es war eine neuartige und informelle Koalition rund um mittlere und grössere europäische Staaten, die sich nach ersten Treffen in Paris nun in London erneut zu einem Gipfel formierte. Neben Selenski, Macron und Meloni nahmen auch der geschäftsführende deutsche Kanzler Olaf Scholz sowie die Spitzenvertreter von EU und Nato teil.
Zugegen waren ebenso die Regierungschefs der Niederlande, Polens, Spaniens, Rumäniens, der Tschechischen Republik sowie der vier skandinavischen Staaten. Aus der Türkei war Aussenminister Hakan Fidan angereist, aus Kanada Premierminister Justin Trudeau. Vor dem Gipfel hatte Starmer zudem mit den Regierungschefs der drei baltischen Länder telefoniert, die unzufrieden waren, dass sie nicht in London am Tisch sitzen durften.
Ziel des Gipfels war es, dass sich die Europäer aus ihrer Schockstarre befreien und das Schicksal der Ukraine und des Kontinents mitzuprägen beginnen. Laut Starmer kamen die Gipfelteilnehmer überein, die Waffenlieferungen in die Ukraine zu intensivieren, um die Verhandlungsposition Selenskis zu stärken. Nach einem allfälligen Waffenstillstand soll die ukrainische Armee hochgerüstet werden, um einen neuerlichen Überfall Russlands abwehren zu können.
Weiter erklärte Starmer, London und Paris wollten mit anderen Staaten und der Ukraine einen eigenen Plan für einen Waffenstillstand ausarbeiten und diesen Washington vorlegen. Eine von den Briten und den Franzosen angeführte «Koalition der Willigen» intensiviere derweil ihre Vorbereitungen zur Entsendung von Soldaten in die Ukraine, um einen möglichen Waffenstillstand zu überwachen.
Details zum Umfang der geplanten Truppe, zu den Modalitäten ihrer Stationierung und zu den beteiligten Ländern nannte Starmer nicht. Zudem machte der Premierminister deutlich, dass er eine amerikanische Sicherheitsgarantie für unabdingbar hält, was weitere Fragen zur Realisierbarkeit des Plans aufwirft. Völlig unklar blieb auch, wie ein Waffenstillstand nach den Vorstellungen von London und Paris aussehen würde und wie die Europäer Moskau von ihren Plänen überzeugen wollen.
EU spielt nicht die Hauptrolle
Starmer betonte, Europa stehe vor der grössten sicherheitspolitischen Herausforderung seit einer Generation. Seine Labour-Regierung hatte letzte Woche eine markante Erhöhung des Verteidigungsbudgets angekündigt. Nun erklärte Nato-Generalsekretär Rutte, etliche Alliierte hätten in London ebenfalls die Erhöhung ihrer nationalen Verteidigungsbudgets zugesagt.
Die Bemühungen zur Aufrüstung sollen Europa von den USA unabhängiger machen. Gleichzeitig entsprechen sie Trumps Forderungen und sollen dazu dienen, ihn in der europäischen Sicherheitsarchitektur zu halten. Die Rechtsnationalistin Meloni, die sich auch dank ihrer ideologischen Nähe zu Trump als transatlantische Brückenbauerin versucht, sagte, es gelte, ein dringliches Gipfeltreffen zwischen der EU und den USA einzuberufen.
Allerdings scheint man in Washington an der EU als Gesprächspartnerin nicht sonderlich interessiert zu sein. Im Gegenteil: Trump erklärte unlängst, er halte die EU für ein Konstrukt, das gegründet worden sei, um den USA zu schaden. Ohnehin ist der amerikanische Präsident kein Anhänger multilateraler Formate, sondern setzt eher auf bilaterale Deals.
Umso schwerer war es den Europäern in den letzten Wochen gefallen, auf die neuen Töne aus Washington mit einer konzisen Strategie zu reagieren. Der finnische Präsident Alexander Stubb sprach in London von einer «Kakofonie». Während sich der spanische Regierungschef Pedro Sánchez in der Rolle des Trump-Kritikers gefiel, setzten Macron und Starmer bei ihren Besuchen in Washington auf Charmeoffensiven. Konkrete militärische Zusagen erhielten die beiden freilich nicht.
Auch wenn das Gipfeltreffen in London ohne bahnbrechende Resultate zu Ende ging, könnte die informelle Staatengruppe zum wichtigsten sicherheitspolitischen Format Europas avancieren. Statt des deutsch-französischen EU-Motors sind Frankreich und das Nicht-EU-Land Grossbritannien als regionale Militär- und Atommächte die treibenden Kräfte.
Die EU ist in der Handelspolitik eine Macht, und am Donnerstag will sie an einem Sondergipfel in Brüssel über die vereinfachte Finanzierung der Aufrüstung befinden. In harten Sicherheitsfragen spielte sie aber im Gegensatz zur Nato noch nie die Hauptrolle. Zusätzlich geschwächt wird sie durch die Uneinigkeit ihrer Mitgliedstaaten. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban präsentierte sich am Wochenende erneut als Sprachrohr Putins und drohte, EU-Beschlüsse per Veto zu blockieren.
Starmer betonte, angesichts der rasanten geopolitischen Verschiebungen müsse Europa jetzt die Schwerstarbeit zur Garantierung seiner Sicherheit verrichten. Er habe Verständnis dafür, dass sich nicht alle Staaten gleichermassen an dieser Arbeit beteiligen wollten. Darum garantiert laut Starmer nur das Format einer «Koalition der Willigen», dass Europa schnell und flexibel handeln könne, statt sich in der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu verlieren.