In einer dramatischen Rede an die Nation hat der französische Präsident die USA als unsicheren Kantonisten und Russland als Bedrohung bezeichnet. An Deutschland erneuerte er sein Angebot, den nuklearen Schutzschirm auszuweiten.
So ernst hat man Emmanuel Macron seit seiner Rede an die Nation während der Corona-Krise im März 2020 nicht erlebt. «Nous sommes en guerre» («wir sind im Krieg»), sagte er damals und kündigte harte Restriktionen zur Bekämpfung der Pandemie an. Fast noch dramatischer wandte sich der französische Präsident am Mittwochabend an sein Land und sprach von einer neuen «Welt voller Gefahren». Nichts werde mehr sein wie früher.
Die russische Bedrohung sei da, raunte Macron. «Sie betrifft uns.» Die Welt werde unaufhörlich brutaler, und die terroristische Bedrohung lasse nicht nach. Insgesamt, so konstatierte der ganz in Schwarz gekleidete Präsident, seien Europas Wohlstand und Sicherheit fragiler geworden.
Kein Verlass mehr auf Washington
In weniger als einer Viertelstunde konfrontierte Macron die Franzosen mit der neuen weltpolitischen Lage, in der der russische Machthaber Putin massiv aufrüste und die USA nach ihrem Kurswechsel in der Ukraine-Politik keine verlässlichen Verbündeten mehr seien. So plane der Kreml mit zusätzlichen 300 000 Soldaten, 3000 neuen Panzern und 300 neuen Kampfflugzeugen in den nächsten fünf Jahren.
«Wer kann in diesem Zusammenhang glauben, dass Russland nach der Ukraine haltmachen wird?», fragte der französische Präsident. Er wolle glauben, dass die USA noch an Europas Seite stünden. Man müsse aber auf das Gegenteil vorbereitet sein und konsequent in die eigenen Streitkräfte investieren: «Europa darf nicht darauf warten, dass Washington es schützt.»
Macrons alarmierende Rhetorik ist nicht neu, seit Wochen warnt er sein Land vor dem Schlimmsten. Neu ist allerdings, dass er am Mittwoch eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mindestens 3,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts in den kommenden Jahren ankündigte, nachdem der französische Wehretat seit 2021 bereits von 1,8 auf derzeit 2,1 Prozent gestiegen war. Erforderlich sei dafür ein Mehraufwand von mindestens 30 Milliarden Euro, heisst es aus dem Élysée-Palast.
Inwieweit das angesichts des schon jetzt überbordenden französischen Staatshaushalts zu stemmen ist, ist unklar. Steuererhöhungen, versprach Macron, solle es nicht geben. Dafür rief er «alle politischen, wirtschaftlichen und gewerkschaftlichen Kräfte des Landes» zu «mutigen Entscheidungen» auf. Dieser Appell dürfte vor allem an die Linken und die Gewerkschaften gerichtet sein, die umstrittene Rentenreform nicht mehr anzutasten und sich auch bei anderen möglichen Kürzungen im Sozialhaushalt nicht querzustellen.
Frankreichs Sozialisten reagierten umgehend. Ihr Generalsekretär Olivier Faure sagte am Donnerstag, er sei auch für eine Unterstützung der Ukraine und für höhere Verteidigungsausgaben. Die Zeche dafür müssten aber Frankreichs «Superreiche» zahlen, und die Aufrüstung dürfe niemals zulasten der öffentlichen Dienste gehen.
Dies ist ein erster Vorgeschmack auf die Verteilkämpfe, die dem Land bevorstehen. Macron weiss, dass die konservativ-zentristische Minderheitsregierung von François Bayrou, die seit Dezember im Amt ist, jederzeit gestürzt werden kann und deswegen auf Kooperation mit den Sozialisten angewiesen ist.
Die radikale Linke lehnt einen höheren Wehretat kategorisch ab, und auch das Rassemblement national von Marine Le Pen sträubt sich, wenn höhere Rüstungsausgaben über Frankreich hinaus gedacht werden. Eine Ausweitung des nuklearen Schutzschirms auf ganz Europa sieht ihre Partei als Bedrohung für die nationale Souveränität. «Teilen heisst abschaffen», sagte Le Pen zu Wochenbeginn in einer hitzigen Parlamentsdebatte. «Unsere nukleare Abschreckung ist unsere letzte Verteidigungslinie. Sie darf nicht verwässert werden.»
Die Macht, den roten Knopf zu drücken
In seiner Rede am Mittwoch erneuerte Macron das Angebot, Frankreichs Kapazitäten in der nuklearen Abschreckung auf Deutschland und andere Länder auszuweiten. «Unsere Atomstreitkräfte stärken die Sicherheit Europas allein durch ihre Existenz», sagte er und bezog sich auf frühere Vorschläge, die Force de Frappe in ein kollektives Sicherheitskonzept zu integrieren.
Daran, so Macron, zeigten vor allem Deutschland, Polen und die baltischen Staaten Interesse. Er habe schon mit dem designierten deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz über eine gemeinsame Nuklearstrategie gesprochen. Macron stellte aber auch klar, dass nur er, Frankreichs oberster Befehlshaber der Streitkräfte, die Macht habe, den roten Knopf zu drücken.
Macron erinnerte ausserdem an den französisch-britischen Plan zum Krieg in der Ukraine über eine einmonatige, partielle Feuerpause. Er kündigte ein Treffen der Generalstabschefs aller Länder, die sich an dem Plan beteiligen wollen, für nächste Woche in Paris an.
Anders als in Frankreich herrscht auf EU-Ebene weitgehend Einigkeit darin, die Ukraine stärker zu unterstützen – wäre da nicht Viktor Orban. Der ungarische Ministerpräsident lehnt militärische Hilfen für Kiew per se ab. Seit der Annäherung zwischen Wladimir Putin und Donald Trump sieht er sich in seinen Überzeugungen bestätigt. Macron hatte Orban am Mittwoch zu einem Gespräch über Europas Verteidigung in den Élysée-Palast eingeladen. Aus Paris hiess es nach dem Treffen, dass Orban neue Ukraine-Hilfen weiter ablehne, mit dem französischen Staatschef aber eine «offene und ehrliche Diskussion» geführt habe.