In den syrischen Küstenprovinzen ist es in der Nacht auf Freitag zu heftigen Gefechten zwischen Sicherheitskräften und Asad-Loyalisten gekommen.
Bei dem Einsatz am Donnerstagnachmittag sollte es sich eigentlich um eine Routineoperation handeln. Doch als Sicherheitskräfte der neuen syrischen Regierung in das Dorf Beit Ana bei Latakia einrückten, um dort nach geflohenen Schergen der Asad-Armee zu fahnden, gerieten sie mit einem Mal unter Feuer. Kurz darauf erhob sich offenbar die ganze Region: Überall in den Küstenprovinzen nahmen Aufständische Regierungsvertreter und deren Kämpfer ins Visier.
Bewaffnete Männer überfielen Checkpoints und Polizeiposten und lieferten sich schwere Gefechte mit Sicherheitskräften. Schwer zu überprüfende Videos aus den sozialen Netzwerken zeigen brennende Häuser und angeblich sogar Leichen, die an Kleintransportern durch Strassen geschleift werden. Dabei kamen mindestens 16 Soldaten der neuen, von der Islamistengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) beherrschten Regierung ums Leben. Manche Quellen sprechen sogar von bis zu siebzig Toten.
Die Unruhen hatten sich angekündigt
Die Blutnacht vom Donnerstag ist der mit Abstand heftigste Gewaltausbruch in Syrien, seit die vom neuen Präsidenten Ahmed al-Sharaa angeführten Milizionäre der HTS im Dezember den Diktator Bashar al-Asad gestürzt hatten. Hinter den Angriffen stecken offenbar Loyalisten des abgesetzten Regimes, wie der untergetauchte Kommandant der einstigen Tiger-Spezialeinheiten, Suheil al-Hassan. Die ehemaligen Militärangehörigen um Hassan hatten immer wieder gedroht, mit Waffengewalt gegen die neue Regierung vorzugehen.
Die Unruhen in den Küstenprovinzen hatten sich angekündigt. Rund um die Hafenstädte Tartus und Latakia leben mehrheitlich Angehörige der religiösen Minderheit der Alawiten, zu der auch die Familie des gestürzten Bashar al-Asad gehört. Viele von ihnen standen im syrischen Bürgerkrieg treu zum Regime. Nun fürchten sie, zum Ziel von Racheakten zu werden. Tatsächlich war es in den Alawiten-Gebieten in jüngerer Zeit immer wieder zu Verhaftungen, Entführungen und Ermordungen gekommen.
Die Behörden in Damaskus versuchten vorerst, den Ernst der Lage herunterzuspielen. Bei den Gewaltausbrüchen habe es sich nur um vereinzelte Vorfälle gehandelt, verkündeten sie am Donnerstagabend. «Die Sicherheitskräfte werden die Stabilität und Ordnung schnell wiederherstellen», sagte etwa Mustafa Kneifati, der Sicherheitschef von Latakia. Gleichzeitig verlegte die HTS-Regierung jedoch zusätzliche Truppen in die brodelnden Küstenprovinzen und verhängte Ausgangssperren.
Sharaa steht von allen Seiten unter Druck
Gelingt es den HTS-Chefs nicht, die Situation unter Kontrolle zu bekommen, droht Syrien schlimmstenfalls ein neuer Bürgerkrieg. Schon in der Nacht auf Freitag riefen Alawiten-Führer in Tartus zu Demonstrationen gegen die neue Regierung in Damaskus auf. In anderen Städten Syriens waren es wiederum HTS-Anhänger, die auf die Strasse gingen, um ihrerseits ein hartes Vorgehen gegen die Aufständischen einzufordern. Der Syrien-Kenner Charles Lister schreibt deshalb von einem «Augenblick der Wahrheit» für das Land.
Für die neue Regierung kommt die Gewaltexplosion zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Präsident Sharaa, der eigentlich ein neues Kabinett bilden sollte, steht knapp drei Monate nach seiner Machtübernahme zunehmend unter Druck. Noch immer ächzt sein Land unter den schweren Sanktionen, die einst gegen das Asad-Regime verhängt worden waren – und die bisher nur vereinzelt gelockert wurden. Gelingt es Sharaa nicht, die wirtschaftliche Lage zu verbessern, droht ihm weiteres Ungemach.
Zudem muss er sich zahlreicher Fliehkräfte erwehren. Im Osten weigern sich die Kurden, ihren De-facto-Staat der Kontrolle von Damaskus zu unterstellen. Im Süden sind es Stammesmilizen und drusische Kämpfer, die ihre Waffen nicht abgeben wollen. Und als wäre das nicht alles schon kompliziert genug, untergraben auch noch die Israeli die Autorität des neuen Präsidenten – indem sie den Süden des Landes kurzerhand zu ihrer militärischen Einflusszone erklären und sich zum Schutzpatron der Minderheiten aufspielen.
Iran ist einem Engagement nicht abgeneigt
Sollte sich der Aufstand an der Küste ausweiten, droht Sharaa die Lage vollends zu entgleiten. Zwar sind die Asad-Loyalisten ausserhalb von ihren Hochburgen eher isoliert. Zudem können sie sich nur auf einen Teil der Alawiten stützen, deren Mehrheit nach Jahren der Krise und des Krieges vom korrupten Asad-Regime ebenfalls die Nase voll hatte. Doch in Zukunft dürften die Anti-HTS-Kämpfer möglicherweise Unterstützung von aussen bekommen.
Vor allem die einstige Asad-Schutzmacht Iran scheint einem neuerlichen Engagement nicht abgeneigt. Teheran hat bis heute nicht verwunden, dass mit dem Sturz des Damaszener Diktators fast seine gesamte Sicherheitsarchitektur im Nahen Osten zusammengebrochen ist. Bereits am vergangenen Montag verkündete eine proiranische Gruppe, die sich Islamische Widerstandsfront nennt, den Kampf gegen die angeblich «zionistisch-türkischen Pläne» in Syrien aufnehmen zu wollen.