Was Zürcher Gymnasiasten von der anstehenden Maturareform halten.
Weniger Latein, weniger Sprachen, weniger Geschichte. Dafür mehr Wirtschaft, mehr Informatik und interdisziplinärer Unterricht. Der Kanton Zürich krempelt den Unterricht an den Gymnasien um, als Teil einer nationalen Mega-Reform, der ersten seit rund dreissig Jahren.
Doch fragt man eine Gruppe Maturandinnen und Maturanden – zwischen 17 und 19, ein halbes Jahr vor dem Abschluss – nach ihrer Meinung zu diesem bildungspolitischen Grossprojekt, so heisst es: Maturareform? Noch nie gehört.
Ein Dienstagvormittag im Realgymnasium Rämibühl in Zürich. Rund zwanzig Sechstklässlerinnen und Sechstklässler sitzen im Kreis und debattieren über Bildungspolitik. Sie sind zu vielem gut informiert: den Argumenten für und gegen eine Abschaffung der Gymiprüfung oder der integrativen Schule etwa. Als Teil einer Projektwoche beschäftigen sie sich mit diesen Fragen.
Doch nur zwei der Anwesenden wissen um die anstehende Reform ihrer eigenen Schulstufe. Mehr Wahlfreiheit solle es damit geben, hat die 18-jährige Noëlle gehört. Und das findet sie gut. «Wenn man den Stundenplan an die eigenen Interessen anpassen kann, ist man besser vorbereitet auf das, was man später studieren will.»
Tatsächlich ist das eines der Ziele der Reform: mehr Wahlfreiheit, die Schaffung neuer, auch unorthodoxer Schwerpunktfächer.
Feindbild Französisch
Fast wichtiger ist jedoch etwas anderes: Änderungen bei den Grundlagenfächern – jenen also, die alle Gymnasiastinnen und Gymnasiasten belegen müssen. Dort zeichnet sich in Zürich ein Abbau bei den Sprachen und der Geschichte ab, auf Kosten neuer Fächer wie Wirtschaft oder der jüngst flächendeckend eingeführten Informatik, aber auch der seit Jahren verstärkt geförderten Naturwissenschaften.
«Weniger Geschichtsunterricht finde ich schwierig», sagt dazu die 18-jährige Eleana. In keinem anderen Fach lasse sich das Diskutieren, das Verstehen von politischen Zusammenhängen so gut erlernen. Fehlendes Geschichtsbewusstsein sei eine Gefahr für die Demokratie. «Das zu schwächen für etwas mehr Wirtschaft und Informatik, finde ich falsch.»
Dass sie mehr statt weniger Geschichte wollen: Darin sind sich die Maturandinnen und Maturanden einig. Allerdings üben sie auch Kritik daran, wie das Fach unterrichtet wird.
«Es müssten mehr aktuelle politische Themen besprochen werden», sagt Luis, 17. «Jetzt bleibt man in der Hälfte des Zweiten Weltkriegs stehen, ausser man belegt das Fach im letzten Jahr freiwillig weiter.»
Auf bis zu 1,75 Wochenlektionen könnte der Geschichtsunterricht mit der Reform schrumpfen. Doch wenn nicht dieses Fach bluten soll, wo soll man dann Stunden einsparen? Jedenfalls nicht bei den neuen Grundlagenfächern Wirtschaft und Informatik, finden besonders die jungen Männer in der Gruppe. Einige schlagen gar die Einführung eines Fachs «künstliche Intelligenz» vor.
Ein Kürzungsvorschlag kommt schliesslich von einer 18-Jährigen, die das aber auf keinen Fall mit Namen zitiert haben will: Französisch – das könne man doch getrost weglassen.
Zustimmendes Nicken in der Runde. «Keinen geraden Satz» könnten sie in der Sprache sagen, klagt ein Schüler. Und das nach fast acht Jahren Unterricht. Also gleich weg damit, findet er.
Mehr Breite oder mehr Tiefe?
Hier wird die Maturareform ihn allerdings enttäuschen: Eine zweite Landessprache bleibt Pflicht. Immerhin: Mit Italienisch müssen bald sämtliche Kantonsschulen eine Alternative anbieten.
In beiden Fällen werden jedoch die Wochenstunden weniger. Die Sprachfächer sind die grossen Verlierer der anstehenden Reform. Zwischen 2,6 und 2,8 Wochenlektionen sollen für die zweite Landessprache noch verbleiben.
Am härtesten trifft es aber das Latein, das ganz vom Grundlagen- zum Wahlfach degradiert wird – sehr zur Freude der Maturandinnen und Maturanden. Eine tote Sprache sei das, nur für eine Randgruppe interessant, tönt es von allen Seiten. «Viel Nutzen für mein Leben habe ich bisher nicht daraus gezogen», sagt Eleana, selbst im altsprachlichen Profil.
Sonst löst die Schwächung der Sprachen gemischte Reaktionen aus. Tyler, 18, sagt: «Die Hälfte unserer Fächer sind Sprachen. Wir machen überall dasselbe. Literatur, Geschichte, Grammatik. Das ist einfach langweilig. Ich würde mir Relevanteres wünschen.»
Anders sieht es der gleichaltrige Leon. Er interessiere sich mehr für Naturwissenschaften, finde Sprachfächer aber inhaltlich relevanter. «Etwas über Kommunikation und Vermittlung zu lernen, ist doch wichtiger als Grundwissen über molekulare Prozesse.»
Es ist der Grundkonflikt, der bei jeder Gymi-Reform ausgetragen wird: Soll die Mittelschule eine möglichst breite Grundbildung vermitteln, gerade auch jenseits der individuellen Interessen? Oder soll sie ihre Absolventen vor allem auf ihr künftiges Studium vorbereiten – ihnen also die Möglichkeit geben, verstärkt jene Fächer zu wählen, die ihnen relevant erscheinen?
Breite oder Tiefe, humanistische Grundbildung oder Vorbereitung auf die eigene Laufbahn: Zwischen diesen Prinzipien kann sich die aktuelle Reform nicht recht entscheiden. So soll sie einerseits zusätzliche Grundlagenfächer für alle einführen. Andererseits verspricht sie mehr Wahlfreiheit durch die Schaffung neuer interdisziplinärer Schwerpunkte.
Lehrer befürchten Konflikte
Die haben in Zürich luftige Namen wie «Kommunikation und Medien», «Nachhaltige Gesellschaft» oder «Spanischsprachige Welt». Mehrere Fachlehrpersonen sollen sie gemeinsam unterrichten – etwas, das bei Schülern Interesse, bei den Lehrern aber Skepsis hervorruft.
Die erzwungene Zusammenarbeit über die Fachgrenzen hinweg möge für die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten interessant sein, lautet bei einer kurzen Umfrage im Lehrerzimmer der Tenor. Für die Unterrichtenden aber bedeute es – vorsichtig ausgedrückt – eine interpersonelle Herausforderung.
Schwammige Konzepte statt klare Fachgrenzen, Konflikte im Kollegium statt genug Zeit für den Unterricht: Das sind die grössten Befürchtungen.
Die Maturandinnen und Maturanden im Schulzimmer müssen sich diese Sorgen derweil nicht machen. Sie werden das Gymnasium in einem halben Jahr verlassen – lange bevor die derzeit diskutierte Reform 2029 in Kraft treten soll. Ihre Hauptsorge ist deshalb eine andere: der Übertritt an die Universität.
Dort beklagen sich die Rektoren seit Jahren über immer schlechter gerüstete Gymi-Absolventen. Wenn sie das höre, sagt die Maturandin Eleana, frage sie sich schon: «Warum bin ich sechs Jahre hier, wenn ich danach gar nicht auf die Uni vorbereitet bin?»