Europa kann sich nicht mehr auf die Vereinigten Staaten verlassen. Der französische Politologe Bruno Tertrais erklärt, was sein Land für ein neues europäisches Selbstverständnis leisten kann. Eine Führungsposition für Frankreich sieht er dabei nicht.
Herr Tertrais, wir leben, um mit dem französischen Präsidenten zu sprechen, in einer «Welt voller Gefahren», in der es «Wahnsinn wäre, bloss Zuschauer zu sein». Welche Gefahr ist für Sie die grösste: Amerikas Abkehr von Europa, Russlands imperiale Ambitionen, Chinas Aufstieg zur Weltmacht, der islamistische Terrorismus?
Das kann man nicht gegeneinander abwägen. Frankreich und der ganze Kontinent stehen derzeit den Ambitionen räuberischer Gegner und Verbündeter gegenüber: Russland, China und in gewisser Weise auch die Vereinigten Staaten. Zudem gehört Frankreich zu den europäischen Ländern, die ein besonderes Problem mit dem radikalen Islamismus haben. Terroristische Bewegungen betrachten es seit langem als Feind.
«Räuberische Verbündete»? Ist das Ihr Ernst?
Ja, die Amerikaner sind zwar wichtige Verbündete. Aber die jetzige Administration verhält sich zunehmend räuberisch, wenn sie versucht, mit Grönland ein Gebiet der dänischen Krone für sich zu beanspruchen. Wenn ihr Präsident Europa mit völlig überzogenen handelspolitischen Forderungen erpresst. Oder wenn er behauptet, die EU sei nur gegründet worden, um die USA zu betrügen.
Welche Rolle hat die Atommacht Frankreich in dieser Gemengelage? Kann es eine Führungsrolle in Europa übernehmen?
Ich glaube nicht, dass Europa eine Führungsmacht haben kann. Manchmal braucht es ein Land, das eine Vorreiterrolle übernimmt. Aber bei der Verteidigung wird es keinen unangefochtenen Führer geben. Frankreich, Grossbritannien, Deutschland und Polen haben jeweils eine Rolle zu spielen, aber keiner von ihnen kann die USA als sicherheitspolitischen Anker ersetzen. Richtig ist, dass Frankreich eine treibende Kraft ist, mit einem Präsidenten, der immer betont hat, dass Europa sich nicht allein auf die Amerikaner verlassen sollte, und der erfahren ist im Umgang mit Donald Trump.
Emmanuel Macron ist auch der Initiator eines Friedensplans für die Ukraine. Können die Europäer das Vakuum füllen, das die Amerikaner hinterlassen, wenn sie ihre Militärhilfe einstellen?
Europa kann das Vakuum, das durch eine längere Aussetzung oder einen vollständigen Stopp der amerikanischen Militärhilfe entsteht, nur vorübergehend füllen. Wir verfügen nicht über dieselben militärischen Kapazitäten. Aber wir sollten die Lage der Ukraine auch nicht überdramatisieren. Die Hilfe der USA ist heute weniger entscheidend als noch vor zwei Jahren. Was Macrons Friedensplan betrifft: Ohne amerikanische Sicherheitsgarantien kann er nicht funktionieren. Eine Stationierung europäischer Truppen wäre nur mit amerikanischer Rückendeckung vorstellbar. Trump schlägt vor, dass amerikanische Unternehmen vor Ort eine Art Schutzfunktion übernehmen, aber das halte ich für unrealistisch. Es gibt derzeit keinen Konsens zwischen der Ukraine, Europa, Russland und den USA über die Bedingungen eines dauerhaften Waffenstillstands.
Der Präsident hat ausserdem vorgeschlagen, seinen Nuklearschirm mit Deutschland und anderen Staaten zu teilen . . .
Nein! Macron hat nie angeboten, einen Nuklearschirm zu teilen. Was er tatsächlich vorgeschlagen hat, ist eine De-facto-Sicherheitsgarantie. Paris erkennt an, dass seine vitalen Interessen immer enger mit denen anderer europäischer Staaten verknüpft sind. Das bedeutet jedoch keine formelle Schutzgarantie, sondern eine Art indirekte Abschreckung. Macron hat auch zu gemeinsamen Nuklearübungen und einem strategischen Dialog eingeladen. Diese Idee existiert bereits seit einigen Jahren und wird diskret umgesetzt.
Hier wird diese Debatte aber so geführt, als ginge es darum, die Force de Frappe zu europäisieren.
Niemand zieht das ernsthaft in Betracht. Wenn das Rassemblement national fordert, dass die nukleare Abschreckung französisch bleibe, ist das eine Scheindebatte. In Wahrheit hat nie jemand etwas anderes vorgeschlagen. Im Übrigen haben auch die USA nie angeboten, ihre nukleare Entscheidungsmacht zu teilen. Die Briten ebenso wenig. Auf der anderen Seite sagen die Franzosen seit Charles de Gaulle, dass ihre Abschreckung indirekt auch Europa schützt, allein schon aufgrund der geografischen Lage Frankreichs.
Zur Person
Bruno Tertrais ist stellvertretender Direktor der Stiftung für strategische Forschung und Senior Fellow am Pariser Institut Montaigne. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur französischen und internationalen Sicherheitspolitik wie «La Revanche de l’Histoire», «La Guerre des Mondes» oder «Le Président et la Bombe», für das er 2016 den Prix du Livre de Géopolitique gewann.
Wenn die Europäer ihre Verteidigung selber in die Hand nehmen wollen, braucht es grosse Rüstungsanstrengungen. Ist Frankreich bereit dazu?
Frankreich wird gewaltige Schwierigkeiten haben, seinen Sozialstaat aufrechtzuerhalten und gleichzeitig den Militärhaushalt drastisch zu erhöhen. Ich bin skeptisch, dass es uns gelingt, die Rüstungsausgaben auf 3,5 Prozent des BIP zu steigern, wie Macron das fordert. Selbst mit neuen europäischen Finanzierungsprojekten wie Verteidigungsbonds werden wir Probleme haben, mit den Russen Schritt zu halten. Das ist unsere grösste Schwachstelle.
Auf der anderen Seite sind in Deutschland Schulden plötzlich kein Problem mehr . . .
Ja, dass die Deutschen jetzt bereit sind, für die Verteidigung im grossen Stil Schulden aufzunehmen, ist ein Paradigmenwechsel. Es ist auch gut, wenn Berlin fordert, die Defizitregeln auf EU-Ebene anzupassen, um den sicherheitspolitischen Anforderungen gerecht zu werden.
Stimmt Sie das zuversichtlich für die deutsch-französische Zusammenarbeit? Es gibt mit Friedrich Merz auch einen designierten Bundeskanzler, der als viel frankophiler gilt als sein Vorgänger.
Ich denke, man sollte die Stabilität und die strukturelle Stärke der deutsch-französischen Zusammenarbeit nie unterschätzen. Sie ist ein zentrales Element der französischen Aussenpolitik. Allerdings ist sie auch abhängig von der persönlichen Chemie zwischen den Staats- und Regierungschefs. Zwischen Macron und Scholz waren die Beziehungen nicht optimal, da kann es mit Friedrich Merz nur besser laufen. Es gibt aber noch einen anderen Punkt: Deutsche Entscheidungsträger haben endlich begriffen, dass sie sich nicht mehr uneingeschränkt auf Amerika verlassen können. Diese Einsicht schweisst unsere Länder noch stärker zusammen.
In Ihrem Buch «La Guerre des Mondes» warnen Sie davor, dass Europa Gefahr läuft, zu einem Spielball der Mächte zu werden. Wie kann sich der Kontinent aus dieser Lage befreien?
Die Frage ist, ob wir am Tisch der Mächtigen sitzen oder auf der Speisekarte stehen werden. Europa wird nie ein geeinter Machtblock wie die USA, China oder Russland sein. Kann es trotzdem genug Einheit und Kohärenz finden, um sich vor den Ambitionen räuberischer Akteure zu schützen? Ich bin da trotz allem massvoll optimistisch. Denn Europa macht in Krisenzeiten oft Fortschritte. Trotz den Blockaden durch Länder wie Ungarn oder die Slowakei könnte das gestiegene Bewusstsein für die geopolitischen Risiken unseren Staatenblock dazu bringen, auch eine echte Verteidigungsunion zu werden.
Frankreich spielt da wie schon oft eine treibende Rolle. Allerdings verliert das Land ausserhalb Europas zunehmend an Gewicht. Ist der Rückzug aus «Françafrique» für Sie ein strategischer Kurswechsel oder ein geopolitischer Rückschlag?
Beides. Aber ehrlich gesagt verwende ich den Begriff «Françafrique» nicht, und auch die französischen Offiziellen nutzen ihn nicht mehr. Fakt ist, dass Frankreich militärisch aus mehreren afrikanischen Ländern verdrängt wurde. Ich glaube, wir hätten uns gewünscht, dass diese Neuausrichtung geordneter und auf eine einvernehmlichere Weise stattgefunden hätte. Aber wir können den afrikanischen Staaten nicht vorwerfen, dass sie ihre volle Souveränität beanspruchen wollen. Schliesslich legt Frankreich selbst grossen Wert auf seine eigene Unabhängigkeit.
In Teilen der französischen Öffentlichkeit scheint es eine gewisse Nostalgie nach der «Françafrique» zu geben.
Falls es eine Nostalgie gibt, dann ist es keine koloniale, sondern eine aufrichtige Nostalgie nach der militärischen Zusammenarbeit zwischen der französischen Armee und den afrikanischen Streitkräften. Diese Kooperation hat über die Jahrzehnte hinweg sehr enge freundschaftliche und strategische Bindungen geschaffen.
Aber in einigen Teilen Afrikas schlägt Frankreich mittlerweile offene Ablehnung entgegen.
Moskau betreibt eine erfolgreiche Einflusskampagne auf dem afrikanischen Kontinent, was dazu geführt hat, dass Teile der Bevölkerung Russland als besseren Partner betrachten als Frankreich. Ich denke, viele Afrikaner werden früher oder später von den Russen enttäuscht sein. Abgesehen davon: Auch wenn wir gezwungen waren, uns militärisch aus mehreren afrikanischen Ländern zurückzuziehen, bedeutet das nicht das Ende unserer Beziehungen zu Afrika. Wir befinden uns nicht mehr in den 1960er Jahren. Der Abzug aus Afrika könnte im Übrigen auch ein Vorteil sein, denn er setzt französische Truppen für die Verteidigung Europas frei. Das ist für Europa und für die Ukraine nicht die schlechteste Nachricht.
Wenn Sie eine Prognose für 2030 wagen: Wird Frankreich dann noch eine geopolitische Grossmacht sein – oder endgültig in die zweite Reihe abrutschen?
Dazu müsste man erst einmal definieren, was «erste» und «zweite Reihe» bedeutet. Ich denke, dass Frankreich in den kommenden Jahren weiterhin zwischen zwei grundlegenden Verpflichtungen hin- und hergerissen sein wird: seinem europäischen Engagement, das immer wichtiger wird, und seinem globalen Machtanspruch, der sich aus mehreren Faktoren speist: seinem ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat, seinem Nuklearmacht-Status, seinen internationalen Verteidigungsabkommen und seinen Überseegebieten, die Paris eine Präsenz in allen Ozeanen sichern. Diese Spannung zwischen europäischer Integration und globalem Anspruch ist der Kern der französischen diplomatischen Identität – und ich bin überzeugt, dass das auch 2030 noch so sein wird.