Winter am Meer ist ein Nervenkitzel, den schafft kein Sommersturm mit seinen meterhohen Wellen. Die Insel Rügen hat alles, was einen kleinen Globus ausmacht
Vom Wasser steigt Nebel, das ist der kalte Atem des Meeres. Die Erde dreht sich nicht mehr, sie ist erstarrt – eingefroren mitten in der Bewegung. Warum ist mir trotzdem schwindlig? Es liegt daran: Ich weiss nicht mehr, wo ich bin. Der Nebel, das Eis, der Schnee – diese Leere, bis oben hin mit Weiss gefüllt. Wenn der Schleier jetzt nicht reisst, wenn das Eis nicht sofort taut, bin ich verloren. Hier findet keiner mehr heraus.
Von mir aus.
Denn es ist schön, so verloren zu sein. Darum gehe ich am liebsten im Winter ans Meer. Das ist ein Nervenkitzel, den schafft kein Sommersturm mit seinen meterhohen Wellen. Noch schöner ist es, im winterlichen Getöse am Ufer zu stehen. Stark blinzelnd kann man sich wie auf einem der Schiffe draussen fühlen – knapp unter Land zwar, doch kurz vorm Untergang. Wenn die Wellen ans Land schlagen und man dem Regen, dem Hagel, Goethes «Schauern körnigen Eises» trotzen kann, darf man sich wie der härteste Seebär fühlen, allein gegen alle Gewalten.
Es ist schön, weil ich um die Rettung weiss. Also geniesse ich meine Verlorenheit noch ein wenig.
Denn die Sonne kommt immer wieder. Irgendwann bricht der Himmel auf. Im Sommer nimmt man die Sonne kaum noch wahr, dann muss sie scheinen. Im Winter jedoch ist sie ein Geschenk, und über dem Meer ist sie tatsächlich golden. Und der Himmel und die See können so blau sein, wie es die Postkarten von Rügen behaupten. Es ist der Frost überm Wasser, der uns klar sehen lässt. Manchmal bis hinter den Horizont, bis nach Dänemark oder Schweden.
Im Südosten von Rügen tauchen Eisberge auf und sogar Pinguine
Oder sind es Eisberge, da hinten? O ja, die gibt es, vor allem im Südosten der Insel, nahe am Bodden. Sie sind klein, sicher. Aber sie türmen sich gewaltig in der Lagune, man muss nur nahe genug heran und sich auf den Bauch legen. Dann ist hier die Antarktis. Die Möwen werden zu Pinguinen, so von schräg unten.
Es gibt noch andere Landschaften. Meine Insel hat alles, was einen kleinen Globus ausmacht: im Sommer Äquator und Karibik; im Winter, was die kalten Teile der Erde hergeben. Nahe der Steilküste im Norden etwa, wenn der Hochwald von Bächen durchbrochen wird, die durch Schluchten rauschen, um im Meer zu enden: Im Winter sind es Patagoniens Gletscher, die sich zum Wasser strecken.
Die jetzt weissen Ebenen der «Pampa», das glitzernde Ödland des Südwestens: Der flachste Teil der Insel geht sommers gut als «endlose Graslandschaft» durch. Zumal sie, wie die echte, von Millionen Schafen bevölkert ist, stark aufgerundet. Doch wer erkennt das genau, wenn man im Pferdesattel durchgerüttelt wird. Zwischen Bodden und kleinen Seen sind die besten Reitreviere: die Ackerfurchen entlang, bis die Muscheln unter den Hufen knirschen, mit Galopp ins Wasser, als wolle man hinüberspringen aufs bucklige Eiländchen Hiddensee, allein mit den Rössern durch die Gischt, bis die nahen Anglerboote zu schaukeln beginnen. Im Winter muss man nicht einmal über Sandburgen.
Und meine Insel ist die Eis-Wüste. Bleich und bloss liegt nun der Strand, dass ich ihn kaum erkenne. Ihm fehlt das «Gesicht» – die Menschen, die Segel, die Liegestühle und Windschutze. Jetzt ist der Strand kein Strand mehr. Er hat seine Bestimmung verloren, einladend zu sein. Strand ist eine Erfindung des Sommers, er muss warmkörnig sein und nach Sonnencrème riechen, sonst taugt er nichts. Ihn jetzt noch als Strand zu sehen, ist albern. So ohne die Oasen der Handtücher, ohne die pullernden Kinder und ohne die Wasserbälle, die auf nackte Bäuche plumpsen («Herrje, könnt ihr nich’ woanners spiel’n?»).
Der sommerliche Strand wird zur Wüste und zum ewigen Eis
Menschenleer wirkt er breiter, er ist die Wüste, als die wir den Strand zu Kinderzeiten sahen. Diese Vorstellung habe ich stets am leeren, winterlichen Meer: mich in den Sand zu werfen und mich als einziger Überlebender einer Karawane «mit letzter Kraft» ans rettende Wasser zu robben. Manchmal, im Schnee, spielten wir Scott und Amundsen. Eine von allen Wettern gebeugte Krüppelkiefer war der Südpol. An irgendetwas musste der ja zu erkennen sein.
Sie sind still, die Winter am Meer. Nicht ganz, gewiss. Doch so leise, dass jedes Geräusch einzigartig ist: der Schlag der Möwenflügel über dem Wasser; das Glucksen der Fische, wenn sie Luft holen; selbst die Wellen über den Kieseln hat man so noch nicht gehört. Das Eis knirscht, manchmal knallt es wie ein Peitschenhieb. Äste knacken, und auch der Wind, selbst wenn er nur schwach weht, hat seine Stimme. Die Natur will uns was sagen, im Winter kann man ihr ruhig zuhören.
Von überladenen Bäumen rutscht der Schnee, ein sanftes Poltern. Was man im Sommer überhört, jetzt wird es Wahrnehmung: Vögel krächzen, schreien, piepsen; im Unterholz, gleich hinter den Dünen, raschelt es, ein Wildschwein, vielleicht, vielleicht auch nur eine Plastiktüte. Oder doch eine Elfe? Im Winter, das weiss hier jeder, zeigt sie sich auch bei Tage. Denn nun ist es stets dunkel genug für das scheue Ding.
Der Himmel ist aufgerissen, der Nebel verschwunden. Wie die Buckel gestrandeter Wale ragen Findlinge aus der See. Die Kreide hat das Meer türkis gefärbt, sie stammt von den Abbrüchen an der Steilküste. Noch immer ist es unheimlich still.
Eine Ruhe, die man aushalten muss. Nicht jedem gelingt das. Manche kriegen Panik, wenn auf einmal nichts mehr passiert. Wer es aber schafft, sich der Laut- und Bewegungslosigkeit hinzugeben, erfährt das heilende Schweigen des Meeres.
Diese Stille kann man schwer in Worte fassen. Vielleicht gibt es darum so wenig Gedichte über den Winter am Meer. Dabei kann die Natur kaum poetischer sein als jetzt und hier. Es gibt ein Gedicht von Peter Hille, eines der wenigen, die sich trauen, dem Winter an der See beizukommen:
Meer, du rasender Greis,
Heldenlied, das über stürmender Harfe zieht
Von Bardenbärten wild und weiss.
Aber auch bei ihm muss das Meer toben, damit es in Worte gebändigt werden kann. Die Stille jedoch – unbeschreiblich. Es ist, als höre man zwischendurch das Atmen der Erde.
Immerhin kann man sie malen. Die schönsten Gemälde Caspar David Friedrichs sind aus dieser Stimmung geholt. Sein «Mönch am Meer», zum Beispiel, erst recht sein «Eismeer». Angeblich soll es arktische Gefilde darstellen, ich glaube das nicht. Denn genau so türmen sich gerade jetzt die Schollen vor mir; genau so leuchten die Farben des Eises. Friedrich war ein häufiger Gast auf der Insel. Ist der Mann dort an den Kreidefelsen nicht Friedrich selbst? Es ist bekannt, dass er oft in den Kliffen hing, ein so halsbrecherisches Unterfangen, dass nur einem Genie der Todessehnsucht der Aufstieg danach gelingt. Entwarnung, es ist ein überhängender Baum, der in den Abgrund schaut.
Im Winter atmet die Landschaft durch. Im Winter findet man seine Spuren im Sand auch am nächsten Tage wieder.
Im Winter am Meer, wenn die Erde sich nicht mehr dreht, ist man weniger sterblich.