Mehr als zwei Jahre lang befand sich der Offizier Maxim Butkewitsch in russischer Kriegsgefangenschaft. Er erlebte dabei viel Gewalt – und wie tief die Gehirnwäsche der Russen reicht.
Vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 war Maxim Butkewitsch ein prominenter Menschenrechtsaktivist und Journalist in Kiew. Als sich die russischen Truppen der Hauptstadt näherten, meldete sich der Intellektuelle, der einst Philosophie studiert hatte, freiwillig zum Kriegsdienst. Vier Monate später geriet seine Einheit an der Luhansk-Front in Gefangenschaft. Es folgte eine lange Leidenszeit mit Gewalt und Erniedrigung. Erst im letzten Oktober kam er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei – nach insgesamt zwei Jahren und vier Monaten der Ungewissheit.
Dem 47-Jährigen ist die Übermüdung anzusehen, aber Erholung will er sich nicht gönnen: Er sieht seine Pflicht darin, in Vorträgen, Interviews und auch im Berner Bundeshaus an das von Russland begangene Unrecht zu erinnern.
Herr Butkewitsch, für Sie muss es surreal wirken: Sie rennen hier in der Schweiz von einem Termin zum nächsten, aber noch vor einem halben Jahr waren Sie eingesperrt und zu Untätigkeit verdammt. Wie ändert sich das Zeitgefühl in Gefangenschaft?
Fast total: In Freiheit ist Zeit die wertvollste Ressource, in Haft ist sie ein Hindernis. Warten ist das Wesen der Gefangenschaft. Es braucht Geduld. Ich zweifelte zwar nie, dass ich irgendwann freikommen würde. Aber jeder Häftling hat seine Momente der Verzweiflung – wenn man das Gefühl bekommt, dass es nie endet.
Sie wurden in einem Pseudoverfahren zu dreizehn Jahren verurteilt. Wie kämpft man da gegen die Verzweiflung an?
Ich legte mein ganzes Vertrauen in meine Angehörigen und Freunde. Ich wusste, dass sie alles für meine Freilassung tun würden. Ich versuchte der Situation auch eine Logik abzugewinnen: Weshalb hatten sich die Russen die ganze Mühe gemacht, gegen mich und meine Mitgefangenen ein Strafverfahren zu fabrizieren? Der Grund konnte nur sein, dass man unseren Wert in einem Gefangenentausch hochtreiben wollte. Wir waren eine Handelsware. Und wie jeder Häftling machte ich mir phantastische Pläne für die Zukunft. Auch das ist eine Technik der Resilienz: Man wirft einen Haken in die Zukunft, um sich daran zu klammern und bei Verstand zu bleiben.
Sie bezeichnen sich als Antimilitaristen und meldeten sich trotzdem freiwillig bei der Armee. Weshalb?
Ich musste mein Land verteidigen. Von meiner Arbeit als Menschenrechtler war mir nach der russischen Invasion klar, was auf dem Spiel stand: Unter russischer Okkupation würde es schlicht keine Möglichkeit mehr geben, für Menschenrechte einzutreten – es würde eine Terrorherrschaft folgen. Alle unsere Erfolge in der Ukraine auf dem Gebiet der Menschenrechte würden zunichtegemacht. Das wollte ich nicht zulassen. Als Student hatte ich eine militärische Grundausbildung erhalten und besass deshalb einen Offiziersrang. Ja, ich bin ein Antimilitarist in dem Sinne, dass ich die Militarisierung einer Gesellschaft in Friedenszeiten für gefährlich halte. Aber ich bin kein Pazifist. Wer Zeuge eines Verbrechens wird und nicht handelt, macht sich zum Komplizen.
Wie gerieten Sie in Gefangenschaft?
Im Juni 2022 wurde der von mir kommandierte Zug in die Donbass-Provinz Luhansk verlegt, in einen Ort mit dem malerischen Namen Mirna Dolina (friedliches Tal). Ich sah in diesem Namen von Anfang an ein schlechtes Omen. Das Dorf war tatsächlich hübsch, aber es wurde vor meinen Augen zerstört. Kaum hatten wir eines Abends unsere Stellung bezogen, begann die russische Artillerie ihr «Konzert», einen stundenlangen Granatenbeschuss. Am anderen Morgen erkannte ich den Ort kaum mehr. Häuser hatten sich in Ruinen verwandelt, Strassen in Kraterfelder.
Wir erhielten den Befehl, von einem Posten ausserhalb des Dorfes russische Truppenbewegungen entlang einer wichtigen Strassenverbindung zu beobachten. Mit acht Mann ging ich dorthin. Aber wir hatten kein Wasser, und nach zwei Stunden verloren wir jeglichen Funkkontakt. Später bemerkten wir, dass Russen in einem nahen Wald Stellung bezogen hatten. Aber wir waren nutzlos; wir konnten das niemandem weitermelden und beschlossen, uns zurückzuziehen.
Da meldete sich überraschend per Funk wieder eine Stimme, ein Ukrainer aus einer benachbarten Einheit. Er versprach, uns vor der Umzingelung zu retten. Wir folgten seinen Anweisungen per Funk, rannten über ein Feld und waren nur noch einige Dutzend Meter von einem Wald entfernt. Da hiess er uns anzuhalten und sagte: «Es tut mir furchtbar leid. Aber ich bin in russischer Gefangenschaft und habe euch in einen Hinterhalt gelockt.» Da traten Russen aus dem Wald und richteten ihre Gewehre auf uns. Bei ihnen war der Ukrainer, in Fesseln.
Und dann?
Es war nichts zu machen, wir konnten uns nirgends verbergen. Ich war verantwortlich für meine Männer und wollte ihr Leben schonen. So gab ich ihnen den Befehl, die Waffen niederzulegen.
Aus Videos aus dem Krieg ist bekannt, dass solche Momente besonders gefährlich sind. Wer sich ergibt, wird von den Russen manchmal einfach erschossen.
Davor hatte ich Angst, aber zunächst wurden wir nicht schlecht behandelt. Die Russen gaben uns Wasser, was in der Sommerhitze lebenswichtig war. Aber dann wurden wir an eine andere Einheit weitergereicht, dann noch an eine. Dort erging es uns schlechter. Man hielt uns in einem halbzerstörten Haus fest, unsere Bewacher verdeckten ihre Gesichter mit Sturmhauben. Ich erhielt zum ersten Mal Schläge, von einem russischen Offizier. Er war ein Sadist, der uns provozieren wollte, damit er eine Ausrede hatte, uns Gewalt anzutun.
Wie hat er Sie provoziert?
Er fragte alle nach unseren Frauen. Dann liess er seinen Phantasien freien Lauf und beschrieb, wie unsere Frauen in diesem Moment vergewaltigt würden. In allen Details. Mich beleidigte er als Schandfleck der ukrainischen Armee. Aber ich blieb ruhig und höflich. Am nächsten Morgen kam er wieder und befahl mir, ein Video aufzunehmen, in dem ich den russischen Truppen «eine gute Jagd» auf die Ukrainer wünschte. Ich weigerte mich.
Das liess Ihnen dieser Sadist durchgehen?
Er drehte sich um und ging. Aber die Sache war damit nicht ausgestanden.
Später zwang man Sie trotzdem, ein Propagandavideo aufzunehmen. Es zeigt Sie schweissgebadet, wie Sie in die Kamera sagen, Sie würden gut behandelt.
Das war wirklich eine interessante Unterhaltung! Die Russen wollten auch, dass ich andere Dinge sage – dass wir von unseren Kommandanten betrogen und in den sicheren Tod geschickt worden seien. Ich erwiderte, dass ich das nicht sagen könne, weil ich es nicht wisse. Das machte sie neugierig, sie fanden das Gespräch mit einem Journalisten und Menschenrechtsaktivisten interessant. Sie gaben mir die Chance, das Video mit einer anderen Formulierung aufzunehmen, sonst «würde ich bearbeitet». Später kam der erwähnte Offizier wieder und sagte uns, er werde uns nun ukrainische Geschichte lehren. Er zitierte aus einem Putin-Vortrag zu diesem Thema.
Russlands Propaganda darüber, dass die Ukrainer kein eigenes Volk darstellen.
Abschnitt für Abschnitt mussten meine Leute alles wortwörtlich wiederholen. Wann immer jemand stockte, wurde ich mit einem Holzknüppel geschlagen. Es war rührend zu sehen, wie sich meine Jungs bemühten, so gut es ging, damit ich nicht geschlagen würde. Aber Russisch war für manche von ihnen nicht die Muttersprache. Der Offizier teilte seine Hiebe sehr professionell aus, immer genau auf dieselbe Stelle. Als es extrem schmerzhaft wurde, sagte ich ihm: «Sie brechen mir die Schulter.» Er antwortete: «Nein, ich weiss genau, was ich tue.» Und er wusste es tatsächlich: Zuletzt war alles geschwollen und blutig, und meine Hand war noch wochenlang gelähmt. Aber er brach den Knochen nicht. Er muss viel Übung gehabt haben.
Das ist also die Art, wie die «Befreier» die ruhmreiche Geschichte Russlands lehren.
Ja, ich kniete vor diesem vermummten Offizier und merkte, wie sein Gerede immer konfuser und sein Blick neblig wurde. Er genoss die Gewalt offensichtlich. Zugleich war das Ganze ziemlich rational. Er wollte unsere Moral zerstören und zeigen, dass wir seiner Gnade ausgeliefert waren. Zum Abschied, bevor wir auf einen Militärlastwagen verladen wurden, mussten wir alle ein Hoch auf Russland rufen.
Schockierte Sie die Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht nur Putins Wahnidee ist, sondern auch das Fussvolk begeistert mitmacht?
Ich unterschätzte den russischen Kadavergehorsam und die Gehirnwäsche auf russischer Seite. Natürlich war ich auf Propaganda-Einflüsse gefasst, aber dieser Offizier und viele andere, denen ich begegnete, lebten in einer völlig anderen Realität. Noch mehr überraschte mich allerdings die Gleichgültigkeit russischer Soldaten. Ich traf immer wieder Soldaten, die diesen Krieg durchschauten und trotzdem brav alle Befehle ausführten. Diese Mentalität, dass man sowieso nichts ändern kann, ist uns Ukrainern sehr fremd. In der russischen Weltsicht hingegen ist das Volk machtlos, eine blosse Masse, der Einzelne wertlos.
Als Nächstes landeten Sie in einer Zelle in Luhansk. Woher wussten Sie überhaupt, wo Sie sich befanden?
Im Lastwagen bekam ich nicht viel mit. Nach der Folter verlor ich fast das Bewusstsein, man schüttete mir Wasser über den Kopf. Aber auf die billigen Handtücher in unserer Zelle war die Aufschrift «Untersuchungsgefängnis Luhansk» gestempelt. So erfuhren wir unseren Aufenthaltsort. Wir erhielten etwas Seife, aber kein Toilettenpapier. Duschen war theoretisch jede Woche vorgesehen, aber einmal mussten wir sechs Wochen darauf warten.
Wurden Sie in diesem Gefängnis auch verhört?
Ja, besonders in den ersten zwei Wochen gab es viele Verhöre. Die Männer stellten sich nicht vor, aber offensichtlich kamen sie von den Geheimdiensten, später auch von den Justizbehörden. Einige der gewaltsamsten Verhöre fanden im Gebäude der Staatssicherheit von Luhansk statt. Manche der dortigen Beamten fingen gleich mit Schlägen an, um ihre Macht zu demonstrieren – auf den Kopf oder mit dem Polizeiknüppel auf das Gesäss und die Beine.
Ich hatte Glück, vielleicht, weil ich Journalist war, und kam in dieser Phase noch ohne Prügel davon. Aber sie drohten mir, auch mit einem Tapik, den sie vor mir aufbauten.
Was ist das?
Ein militärisches Feldtelefon, mit einer Kurbel zur Erzeugung der nötigen Spannung. Es wird zur Folter mit Elektroschocks benutzt. Dem Opfer werden Drähte an den Genitalien, Ohren oder der Nase befestigt und dann Stromstösse versetzt. Mehrere meiner Zellengenossen machten das durch.
Ich selber wurde erst später und nur einmal kurz auf diese Weise gefoltert, aber nicht mit einem Tapik, sondern mit einem Elektroschocker-Schlagstock. Das war nach der Eröffnung eines Strafverfahrens gegen mich, bei der ersten «Befragung» am 13. August 2022. Das war eine brutale Angelegenheit. Man drohte mir mit Vergewaltigung, schlug mich und zwang mich für Stunden in eine schmerzhafte Position: Kopf nach unten gedrückt, Hände hinter dem Rücken gefesselt. Sie zeigten mir, was ich in den nächsten Monaten erdulden würde, wenn ich nicht kooperieren würde.
Welche Optionen gab man Ihnen?
Entweder würde ich kooperieren und mich eines Kriegsverbrechens schuldig bekennen. Dann würde ich nach der Verurteilung sehr schnell, innert zweier Monate, in einem Gefangenenaustausch freikommen. Oder keine Kooperation, und dann gebe es zwei Möglichkeiten. Erstens, mich zu erschiessen.
Das drohte man Ihnen so direkt an?
Einer der Ermittler sagte, er bringe mich jetzt in den Gefängnishof. Es gebe dort eine schöne Ecke, wo ich eine Zigarette erhielte und einen letzten Anruf machen könne. «45 Jahre ist doch ein genug langes Leben, oder?», sagte er. Später drohten sie mir auch damit, einen Fluchtversuch zu inszenieren und mich dabei zu erschiessen. Die zweite Möglichkeit war, mich einfach in eine Zelle mit gewalttätigen russischen Häftlingen zu stecken. «Sie werden dein Leben zur Hölle machen, und du wirst jeden Tag deine Entscheidung verfluchen.» Gemeint waren Prügel und Vergewaltigungen, so dass ich das Gefängnis höchstens als körperliches und psychisches Wrack verlassen würde.
Also kooperierten Sie.
Ja. Ich wollte lebend rauskommen. Ich wusste, dass mein «Geständnis» eines Kriegsverbrechens in der Ukraine ohnehin von niemandem ernst genommen würde. Die Russen fabrizierten solche Strafverfahren gegen Kriegsgefangene am Fliessband. Das Modell war stets dasselbe: Wir wurden angeklagt, Zivilisten angegriffen zu haben, mit Granatwerfern oder anderen Waffen. Eine spezielle Ermittlergruppe nahm zu diesem Zweck Zeugenaussagen von verletzten Zivilisten auf, in meinem Fall von einer Mutter und ihrer Tochter. Sie waren bei russischem Beschuss zu Schaden gekommen.
Man machte Ihnen den Prozess wegen eines Verbrechens, das die Russen selber begangen hatten?
Genau. Ich war nie in der Stadt, wo dies geschah, und am fraglichen Tag befand ich mich in Kiew. Investigativjournalisten konnten dies später beweisen. Solche Absurditäten gab es auch bei anderen Kriegsgefangenen, aber das spielte in den Prozessen keine Rolle. Mein Verhörprotokoll musste ich unterschreiben, ohne den Inhalt zu sehen. «Nicht wichtig, unterschreib einfach», sagten sie mir. Und nachher meinte im Gang einer meiner Folterer zu mir: «Siehst du, es geht doch auch so, ohne Gewalt.»
Angst ist offensichtlich ein zentrales Herrschaftsinstrument der Russen. Das Gefühl von Angst glauben wir alle zu kennen, aber wie gingen Sie damit um?
Angst war das Schlimmste an der Gefangenschaft. Schlimmer als Schmerz. Ich kannte Angst schon vorher, aber nie in diesem Ausmass. Ich habe seither viel darüber nachgedacht und gemerkt, dass ich den Begriff der Gewalt früher falsch verstanden hatte, im Sinne von Töten und Verwunden. Aber im Kern besteht Gewalt darin, eine Person in ein Objekt zu verwandeln. Das geht auch mit Drohungen und mit dem Gefühl der totalen Ohnmacht. Man verwandelt einen Menschen in ein Spielzeug und befiehlt ihm alles Mögliche: Steh auf, lege dich auf den Boden, sing die russische Nationalhymne und so weiter. Man kann mit dem Spielzeug machen, was man will. Einer Person ihre Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln zu rauben, heisst, ihr die Seele zu nehmen.
Sie selber fühlten sich ebenfalls wie ein Spielzeug?
Natürlich. Ein Beispiel: Drei Monate lang jagten uns die Russen jeden Morgen aus der Zelle in den Korridor. Dabei wurden wir angeschrien und geschlagen, manchmal hetzten sie auch Hunde auf uns. Dann mussten wir Liegestütze machen, Dutzende oder sogar Hunderte. Wer nicht mehr konnte, wurde verprügelt. So ging das von Zelle zu Zelle, immer näher. Unsere war die letzte des Gangs. Das war ein Vorteil, denn bis die Wachen zu uns kamen, hatten sie keinen Spass mehr mit der Quälerei. Aber wir hörten, wie Gefangene Schläge erhielten oder mit Wasser bespritzt wurden, weil sie in Ohnmacht fielen.
Und hier kommt die Angst ins Spiel: Angst ist manchmal schlimmer als Schmerz. Sie ist ein Signal, dass man mental zerbricht. An einem dieser Morgen, während wir den Schreien und den immer näher kommenden Schritten lauschten, sah ich auf meine Zellengenossen und realisierte: Wir waren alle gelähmt vor Angst. Ich hatte Angst vor der Angst – dass sie die totale Kontrolle über mich gewinnen würde. Sie war mein grösster Feind.