Die Schweiz kann den USA höhere Investitionen von hiesigen Firmen in Aussicht stellen. Das hat Wirtschaftsminister Guy Parmelin am Donnerstag angedeutet. Konkrete Verhandlungen gebe es aber noch nicht.
Der Mensch ist manchmal leicht zu täuschen. Das macht sich der Detailhandel zunutze. Ein Produkt erscheint mit dem Preisschild «statt 8 Franken nur 4 Franken» billiger als mit dem schlichten Aufdruck «4 Franken». Die Psychologen nennen es den Ankereffekt: Die erste wahrgenommene Zahl beeinflusst die Interpretation von «hoch» und «tief».
Die US-Regierung hatte vergangene Woche mit ihrem Zollschock die Anker für die Welt hoch gesetzt: 10 Prozent Grundzoll für alle und höhere Zölle bis zu 50 Prozent für viele Staaten, 31 Prozent für die Schweiz. Nach dem Rückzieher der Regierung Trump von diesem Mittwoch sollen es zumindest für 90 Tage für die Welt ausser China «nur» noch 10 Prozent sein. Für die Schweiz mag dies angesichts der früheren 31 Prozent moderat erscheinen, doch das ist es nicht. Zumindest nicht im Vergleich zu einem anderen Anker: In der Schweiz lagen 2023 laut der Welthandelsorganisation die Importzölle im handelsgewichteten Durchschnitt bei 1,7 Prozent und in den USA bei 2,7 Prozent.
Generell 10 Prozent Zusatzzoll wäre immer noch eine bedeutende Belastung für die Weltwirtschaft und damit auch die Schweiz. Wirtschaftsminister Guy Parmelin sprach am Donnerstag vor den Medien von einem «halb leeren» und «halb vollen» Glas: Die wirtschaftlichen Schmerzen seien mit 10 Prozent geringer, aber die Anpassung sei immer noch schwierig, und die Unsicherheit bleibe hoch. Ein positives Element: Der US-Zoll ist für die Schweiz nicht mehr höher als jener für die EU.
«Nicht in Verhandlungen»
Zu den möglichen Treibern des US-Rückziehers sind verschiedene Behauptungen zu hören: das Taumeln der Finanzmärkte, breite Kritik aus Wirtschaftskreisen, Proteste aus der halben Welt – oder der Rückzieher war von Anfang an einkalkuliert, wie es der US-Finanzminister sagte. Trump selbst begründete seinen Kurswechsel mit der Nervosität der Finanzmärkte.
Wie geht die Schweiz ihre Gesprächen mit US-Vertretern an? Es habe Diskussionen gegeben, aber «wir sind derzeit nicht in Verhandlungen», betonte Parmelin. Er selber habe am Montag mit dem amerikanischen Handelsbeauftragten gesprochen; dieser habe bestätigt, den Schweizer Standpunkt ins Kabinett von Präsident Trump zu bringen. Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter sprach am Mittwoch direkt mit Trump. Die amerikanische Seite betonte in den Gesprächen laut Parmelin vor allem das bilaterale Handelsdefizit der USA mit der Schweiz, während die Schweizer Seite auf helvetische Verdienste in der US-Wirtschaft hinweise – wie etwa die hohen Direktinvestitionen von Schweizer Firmen und die Förderung der Berufslehre.
Staatssekretärin Helene Budliger habe bei ihrem Besuch diese Woche in Washington den USA mögliche Themen für Diskussionen aufgezeigt, sagte der Wirtschaftsminister. Als Beispiel nannte er das Potenzial künftiger Investitionen von Schweizer Firmen in den USA. Ein Präjudiz für dieses Thema lieferte das Abkommen der Schweiz und der anderen Efta-Länder mit Indien. Die Efta-Staaten versprachen Indien Investitionen von Firmen aus ihren Ländern von total 100 Milliarden Dollar innert 15 Jahren Die Schweiz kann den Firmen solche Investitionen nicht befehlen – sie kann sie höchstens fördern, in welcher Form auch immer.
Gratwanderung
Trump hatte sich diese Woche abschätzig über ausländische Ländervertreter geäussert, die unterwürfig um einen Deal bettelten. Tyrannen neigen dazu, Schwäche zu verachten und nur Stärke zu respektieren. Für die Schweiz ist eine Gratwanderung angesagt: Unterwürfigkeit erscheint ebenso kontraproduktiv wie aggressives Aufplustern.
Sollte die Schweiz wie die EU Gegenzölle oder sonstige Gegenmassnahmen androhen? Laut einem Beobachter könnte es nützlich sein, mit einer gewissen Härte aufzutreten. Der Bundesrat hat Gegenzölle vor Wochenfrist jedoch verneint – da solche laut der Regierung der Schweiz mehr schaden als nützen würden. Diese Einschätzung scheint sich bisher nicht geändert zu haben. Laut Beobachtern ist die Situation nicht mit den Sanktionen gegen Russland zu vergleichen: Es gebe keine Erwartung der EU, dass die Schweiz bei Gegenzöllen gegen die USA mitmache – es gebe nur die Erwartung, dass die Schweiz nicht für Umgehungsgeschäfte missbraucht werde.
Die vom Bundesrat am Mittwoch beschlossene Projektorganisation zum USA-Problem unter Leitung von Aussenminister Ignazio Cassis ist dem Vernehmen nach an das Modell der Schweizer Verhandlungen mit der EU angelehnt. Dies soll das Erarbeiten einer gemeinsamen Position erleichtern und Sololäufe einzelner Departemente verhindern. In den Diskussionen mit den USA kann die Schweiz auch Themen jenseits klassischen Handelsfragen ansprechen – wie etwa die Schweizer Interessenvertretung für die USA in Iran.
Auf wann eine Aufnahme von Verhandlungen mit den USA realistisch ist, ist noch offen, wie es hiess. Beschlüsse des Bundesrats über ein konkretes Verhandlungsmandat lägen noch nicht vor.
Kein Nullsummenspiel
Die Obsession der Regierung Trump mit Zöllen und dem amerikanischen Güterhandelsdefizit ist extrem. Aber dies spiegelt ein Bauchgefühl mancher Politiker auch in der Schweiz, wie unlängst etwa die Debatte um die Schweizer Stahlwerke zeigte: möglichst hohe Eigenproduktion ist gut, Exporte sind gut, Importe sind schlecht, und ein Aussenhandelsdefizit ist besonders schlecht.
Die Ökonomen sehen dies typischerweise anders. Die Hauptströmung der Zunft geht etwa wie folgt: Exporte sind kein Selbstzweck, sondern sie haben in erster Linie den Zweck, Importe und damit letztlich den Konsum zu finanzieren. Und ob ein Aussenhandelsdefizit gut oder schlecht ist, hängt von der Situation eines Landes ab.
Handel ist kein Nullsummenspiel: Beide Seite profitieren, sonst würden sie das Geschäft nicht eingehen. Das gilt für Importe wie für Exporte. Das heisst im Prinzip: Wer ein Handelsgeschäft mit Zöllen verhindert, senkt den Wohlstand der Beteiligten. Meist gibt es zwar Alternativen, aber diese sind typischerweise schlechter – sonst hätten die Betroffenen diese schon ohne Zölle gewählt. Es kann indes triftige Gründe für Handelsbeschränkungen geben, wie etwa die nationale Sicherheit. Die wirtschaftlichen Kosten wären dann als Preis für politisch übergeordnete Ziele zu betrachten.
Handelsbilanz von Privaten
Man stelle sich vor, ein Privathaushalt müsste alles Nötige selber produzieren – vom Backofen über die Möbel bis zu den Kartoffeln. Diese Vorstellung alleine sollte genügen, um den Nutzen des Handels zu sehen: Die Spezialisierung sorgt zusammen mit den Skalenerträgen aus Grossproduktionen für hohe Wohlstandsgewinne. Das Gleiche gilt im Prinzip auch bei der Betrachtung von Kantonen, Ländern und international. Der Grenznutzen der Marktausdehnung nimmt mit der Grösse eines Marktes ab, aber selbst die grössten Volkswirtschaften wie die USA und China profitieren noch stark vom internationalen Handel.
Ein Privathaushalt «importiert» Güter und Dienstleistungen; er hat gewichtige Aussenhandelsdefizite etwa mit Detailhändlern, Versicherungen und vielen mehr. Das ist im Prinzip sowenig ein Problem, wie ein Aussenhandelsdefizit der USA mit der Schweiz oder Japan ein Problem sein sollte. Der Privathaushalt exportiert im Gegenzug häufig eine Dienstleistung (Arbeitskraft). Insgesamt haben Privathaushalte also oft ein Güterhandelsdefizit und einen Dienstleistungsüberschuss. Eine solche Kombination ist a priori weder für einen Privathaushalt noch für ein Land ein Problem. Der Fokus der USA auf ihre Güterhandelsdefizite unter Ignorierung der Dienstleistungsüberschüsse verzerrt denn auch das Bild.
Der einzelne Mensch hat typischerweise während der Ausbildung «Aussenhandelsdefizite» und in der Erwerbsphase Überschüsse; in der Rentnerphase kann es wieder Defizite geben. Der Vergleich zwischen Privatpersonen und Ländern hinkt. Aber einige Grundsätze sind vergleichbar. Wer ein Aussenhandelsdefizit hat, muss dieses durch Kapitalimport finanzieren. Solche Defizite können sinnvoll sein, wenn sie Investitionen finanzieren, die für die Zukunft eine stärkere Entwicklung versprechen. Wer hingegen chronisch Aussenhandelsdefizite produziert, wird irgendwann eine untragbare Verschuldung haben.
Privileg der USA
Die USA haben seit den 1990er-Jahren jeweils Aussenhandelsdefizite produziert – weil sie weniger sparten als konsumierten. Das Land profitiert aber vom Privileg des Herausgebers der faktischen Weltwährung: Es kann Kapitalimporte zu deutlich tieferen Zinsen finanzieren, als sie es ohne den Weltwährungsstatus tun könnte. Hilfreich dabei: Die US-Volkswirtschaft ist gross und innovativ, was das Land bisher für viele Investoren attraktiv machte. So haben sich die USA bisher ihren Konsumüberschuss relativ billig vom Ausland finanzieren lassen.
Die Schweiz produziert derweil seit Jahrzehnten einen Aussenhandelsüberschuss. Das Nettovermögen der Volkswirtschaft nimmt so laufend zu. Man kann die Überschüsse indes auch kritischer sehen: Gemessen am Sparvolumen gibt es «zu wenig» attraktive Investitionsgelegenheiten im Inland.